Der ferne Spiegel
schließlich murmelte: »Nehmen wir das Wort als gelesen. « Später, als er selbst Priester weihte, stieß er auf das Wort »aenigmate« und fluchte in ehrlicher Wut: »Beim heiligen Ludwig, das war kein anständiger Mann, der dieses Wort geschrieben hat.« Diese unwürdigen Kirchenmänner verbreiteten eine tiefe Unzufriedenheit, da in ihre Hände die Seelen der Menschen gelegt waren und sie als Mittler zwischen Gott und den Menschen galten. Als er über die »unwürdigen und unwissenden« Männer schrieb, die jedes Amt, das sie wollten, von der Kurie kaufen konnten, drückte der Geschichtsschreiber Heinrich von Herford die Unzufriedenheit in den bezeichnenden Worten aus: »Seht . . . die Gefahr für die, die jenen anvertraut sind, und zittert!« [Ref 25]
Da die kirchlichen Sakramente nur noch nach ihrem Geldwert beurteilt wurden, versickerte ihr religiöser Gehalt. Theoretisch konnte die Vergebung der Sünden nur durch Reue erreicht werden, aber was bedeutete schon eine Bußwallfahrt nach Rom oder Jerusalem, wenn der Sünder die Kosten dieser Reise ausrechnen und in Form eines Ablaßhandels abgelten konnte?
Die Päpste – Nachfolger, wie Petrarca sagte, der »armen Fischer von Galiläa« – waren nun »schwer von Gold und in Purpur gekleidet«. Johannes XXII., ein Papst mit der Midasgabe, der von 1316 bis 1334 regierte, kaufte 40 Kleidungsstücke aus Goldbrokat für
seinen persönlichen Gebrauch in Damaskus ein. Das kostete 1276 Goldflorins, aber mehr noch gab er für Pelze aus einschließlich eines nerzbesetzten Kissens. Die Kleiderkosten seines Gefolges lagen bei etwa 7000 bis 8000 Goldflorins im Jahr.
Seine Nachfolger Benedikt XII. und Klemens VI. bauten nach und nach den prächtigen Papstpalast von Avignon aus, eine riesige, unharmonische Ansammlung von Dächern und Türmen ohne zusammenhängenden Entwurf. Der Palast war im Stil einer Burg angelegt mit Innenhöfen und Befestigungsanlagen und vier Meter dicken Wehrmauern. Das Bauwerk besaß fremdartige pyramidenförmige Kamine, die über den Küchen aufragten, es gab Bankettsäle und Gärten, Schatzkammern und Schreibstuben, eine Kapelle mit Rosettenfenstern, ein beheiztes Dampfbad und ein Tor auf den öffentlichen Platz hinaus, wo sich die Gläubigen versammeln konnten, um den Papst auf seinem weißen Esel ausreiten zu sehen. Hier bewegten sich die majestätischen Kardinäle mit ihren roten Kardinalshüten, »reich, unnahbar und raubgierig«, wie Petrarca schrieb. Sie wetteiferten in der Pracht und Herrlichkeit ihrer Gewänder. Einer benötigte zehn Pferdeställe, ein anderer mietete 51 Häuser an, um sein Gefolge unterzubringen. [Ref 26]
»Ich lebe im Babylon des Westens«, schrieb Petrarca in den vierziger Jahren des 14. Jahrhunderts. Die Prälaten feiern »hemmungslose Feste« und reiten schneeweiße Pferde »mit goldenen Satteldecken, sie werden mit Gold gefüttert, und wenn Gott, der Herr, diesem sklavischen Luxus nicht Einhalt gebietet, werden sie bald auch goldene Hufeisen tragen«. Obwohl Petrarca selbst so etwas wie ein entgleister Geistlicher war, hatte er teil an der klerikalen Eigenart, alles, was nicht vollkommen war, mit doppelter Strenge zu verurteilen. Avignon war für ihn »jene ekelhafte Stadt«. Ob der Grund dafür die Korruption oder der Schmutz in den engen, überfüllten Gassen war, bleibt ungewiß. Die Stadt, vollgestopft mit Händlern, Handwerkern, Botschaftern, Abenteurern, Astrologen, Dieben, Prostituierten und nicht weniger als 43 italienischen Bankhäusern (im Jahre 1327), verfügte bei weitem nicht über ein so wirkungsvolles Abwässersystem wie der Papstpalast. Der besaß einen Turm, dessen untere Stockwerke nur Latrinen enthielten. Diese waren mit steinernen Sitzen ausgerüstet und wurden in eine
unterirdische Grube entleert, die mit Wasser aus den Küchenabflüssen und einem zu diesem Zweck umgeleiteten Fluß ausgespült wurde. In der Stadt aber war der Gestank so groß, daß der Botschafter von Aragon in Ohnmacht fiel und Petrarca ins nahe gelegene Vaucluse zog, um sein »Leben zu verlängern«. [Ref 27]
Da Avignon leichter als Rom zu erreichen war, zog es Besucher aus ganz Europa an, und der damit verbundene Geldzufluß erleichterte die Bezahlung von Künstlern, Schriftstellern und Studenten, Rechtsanwälten und Medizinern, Sängern und Dichtern. War Avignon auch korrupt, so war es zugleich eine Hochburg des Mäzenatentums. Jedermann verfluchte Avignon, und jedermann ging dorthin. Die heilige Birgitta, eine verwitwete
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