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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
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aus dem Jahre 1200 stammende Charta der Rechte war der größte Stolz der Universität. Von der staatlichen Kontrolle ausgenommen, trat die Universität der Kirche ebenso hochmütig gegenüber wie der Krone und lag in ununterbrochenem Konflikt mit Bischof und Papst. »Ihr Pariser Meister an euren Schreibpulten scheint zu denken, daß die Welt von euren Überlegungen regiert wird«, tobte der päpstliche Legat Benedetto Gaëtani, der bald schon als Bonifatius VIII. Papst werden sollte, »aber uns ist die Welt anvertraut worden, nicht euch.« Weit entfernt, hiervon überzeugt zu sein, betrachtete sich die Universität als eine Autorität in theologischen Fragen, die dem Papst ebenbürtig war, gestand aber dem Stellvertreter Gottes auf Erden zu, neben ihr »eines der beiden Lichter der Welt« zu sein. [Ref 21]
     
    In diesem begünstigten Land der westlichen Welt war das Erbe der Coucys 1335 ebenso reich wie alt. Das von den Wassern der Aillette befruchtete Land der Coucys wurde das »goldene Tal« genannt, denn seine Reichtümer an Holz, Wein, Weizen und Fisch schienen unerschöpflich. Der großartige Wald von St. Gobain bestand aus mehr als 3000 Hektar von Eichen, Buchen, Eschen, Birken, Weiden, Erlen, Espen und Kiefern. Er war ein Jagdparadies, in ihm gab es Damwild, Wölfe, Reiher, Wildschweine und viele Vogelarten. Das jährliche Einkommen eines Besitzes von der Größe Coucys muß in der Nähe von 5000 oder 6000 Pfund gelegen haben. Steuern, Pachtzinsen und andere feudale Verpflichtungen, die mehr und mehr mit Geld beglichen wurden, Brückenzölle und Gebühren für die Benutzung der Mühlen, Weinpressen, Backöfen und anderer Einrichtungen des Landesherrn trugen dazu bei.
    Alles, was dieses Reich seit den antiken Palisaden von Codiacum geformt hatte, war in der großen Löwenplattform vor dem Burgtor symbolisiert, an dem die Vasallen erschienen, um ihre Ehrerbietung zu bekunden und ihre Pacht zu zahlen. Die Plattform ruhte auf drei liegenden Löwen, von denen einer ein Kind fraß, ein anderer einen Hund, zwischen ihnen lag ruhend ein dritter. Auf der
Plattform saß ein vierter Löwe in aller Majestät, die dem Bildhauer zu Gebote stand.
    Dreimal im Jahr, Ostern, Pfingsten und Weihnachten, kam der Abt von Nogent, um dem Herrn von Coucy für das Land, das den Mönchen ursprünglich von Aubry de Coucy geschenkt worden war, zu huldigen. Das Ritual dieser Zeremonie war ebenso detailliert und abstrus wie das der Königskrönung in Reims. [Ref 22]
    Der Gesandte des Bischofs ritt während dieser Zeremonie ein braunes Pferd (oder anderen Urkunden zufolge ein Palomino), dessen Schwanz und Ohren gestutzt worden waren, es trug ein Pfluggeschirr. Der Gesandte führte eine Peitsche bei sich, eine Säschale mit Weizen und einen Korb mit 120 sichelförmigen Pasteten aus Weizenmehl, die mit geminztem Kalbfleisch gefüllt und in siedendem Öl gebacken worden waren. Dem Reiter folgte ein Hund mit ebenfalls gestutztem Schwanz und gestutzten Ohren, eine Pastete um den Hals gebunden. Der Mann umritt ein steinernes Kreuz vor dem Burgtor dreimal und ließ dabei jeweils einmal seine Peitsche knallen. Dann stieg er ab und kniete vor der Löwenplattform nieder. Wenn jedes Detail der Zeremonie und ihrer Ausstattung gestimmt hatte, durfte er alsdann die Plattform besteigen, küßte den Löwen und hinterließ die Pasteten und zwölf zusätzliche Brotlaibe mit drei Krügen Wein als Zeichen seiner Huldigung. Der Herr von Coucy nahm ein Drittel der Gaben und verteilte den Rest unter den versammelten Beamten und Stadtherren. Danach drückte er dem Huldigungsschreiben ein Siegel auf, das einen ziegenfüßigen Abt mit seiner Mitra zeigte.
    Heidnisch, barbarisch, feudal, christlich, waren dies Ablagerungen einer dunklen Vergangenheit, war dies die mittelalterliche Gesellschaft – und die vielschichtige Erbschaft des westlichen Menschen.

KAPITEL 2
Zum Unglück geboren: Das Jahrhundert
    A ls der letzte der Coucys geboren wurde, hatte sein Land eine beherrschende Stellung in Europa, aber sein Jahrhundert war schon in Schwierigkeiten. Winterliche Kälte legte sich auf den Beginn des 14. Jahrhunderts wie ein Hinweis auf kommendes Elend. Zweimal, 1303 und 1306 /07, fror die Ostsee zu. Jahre mit der Jahreszeit ungemäßen Kälteeinbrüchen folgten, mit Stürmen und starken Regenfällen; der Wasserspiegel des Kaspischen Meers stieg an. Die Zeitgenossen konnten nicht wissen, daß es die Auswirkungen der »kleinen Eiszeit« waren, die ein Vorrücken der

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