Der ferne Spiegel
polaren und alpinen Gletscher verursacht hatte und die bis etwa 1700 andauerte. Sie wußten auch nicht, daß wegen der Klimaänderung Verbindungen nach Grönland allmählich abbrachen, daß die Siedlungen der Normannen dort ausgelöscht worden waren, daß der Weizenanbau in Island nicht mehr möglich war und auch in Skandinavien zurückgedrängt wurde. Aber sie konnten die Kälte spüren und voller Furcht ihre Folgen feststellen: eine kürzere Reifezeit für das Getreide. [Ref 23]
Das aber hatte katastrophale Folgen, weil im letzten Jahrhundert das Anwachsen der Bevölkerungsdichte in ein kritisches Verhältnis zu den landwirtschaftlichen Produktionsmöglichkeiten getreten war. Mit den vorhandenen Methoden und Werkzeugen der Zeit war die Rodung landwirtschaftlich nutzbaren Lands bis an seine Grenzen vorangetrieben worden. Ohne fachgerechte Bewässerung und ohne Düngemittel konnte die Ernte nicht vergrößert werden, noch konnte schlechter Boden fruchtbar gemacht werden. Der Handel hatte nicht die Mittel, größere Mengen Getreide anders als auf dem Wasserweg aus den Überflußgebieten ins Land zu
transportieren. Städte und Gemeinden des Landesinneren lebten von der örtlichen Versorgung; wenn diese versiegte, begann der Hunger.
Nach den unaufhörlichen Regenfällen von 1315, die mit der biblischen Sintflut verglichen wurden, gab es Mißernten in ganz Europa, und »Hungersnot«, der dunkle Reiter der Apokalypse, wurde zu einer vertrauten Erscheinung. Der vorangegangene Anstieg der Bevölkerung hatte die landwirtschaftlichen Produktionskapazitäten bereits überschritten, hatte schon stellenweise Unterernährung hervorgerufen, was die Bevölkerung noch anfälliger für Hunger und Krankheiten machte. Berichte von Leuten, die ihre eigenen Kinder [Ref 24] aßen, breiteten sich aus, von Armen in Polen, die sich von den Körpern der Gehenkten ernährten, die sie von den Galgen schnitten. Eine Ansteckungswelle der Ruhr lief in diesen Jahren durch Europa. Örtliche Hungersnöte flackerten auch noch nach der großen Katastrophe von 1315/16 immer wieder auf.
Menschliche Taten lassen das 14. Jahrhundert nicht weniger als klimatische Veränderungen als zum Unglück geboren erscheinen. In den ersten zwanzig Jahren folgten vier düstere Ereignisse einander auf den Fersen: der Angriff des französischen Königs auf den Papst, der Umzug der Päpste nach Avignon, die Vernichtung des Templerordens und der Aufstand der »Pastoureaux«, der armen Bauern Frankreichs. Das schicksalhafteste dieser Ereignisse war der Angriff auf Bonifatius VIII. durch Männer des französischen Königs Philipp IV., der der Schöne genannt wurde. Der Streit, der dem vorausgegangen war – weltliche gegen päpstliche Autorität –, entstand, als Philipp Steuern auf kirchliche Güter erhob, ohne die Zustimmung des Papstes einzuholen. Als Antwort darauf erließ Bonifatius VIII. die Bannbulle Clericos Laicos von 1296. Darin verbot er den Angehörigen der Kirche, in irgendeiner Form Steuern an irgendeinen weltlichen Herrscher zu zahlen. In der wachsenden Bereitschaft der Prälaten, sich eher mit ihrem König zu verbünden als dem Heiligen Stuhl zu gehorchen, erkannte der Papst eine Gefahr für seinen universellen Herrschaftsanspruch als Stellvertreter Gottes auf Erden. Trotz massiver Angriffe Philipps des Schönen gegen ihn bekräftigte Bonifatius in einer zweiten Bulle von 1302, Unam sanctam , den absolutesten Anspruch auf päpstliche Oberhoheit,
der je geschrieben wurde. »Für die Erlösung der Menschheit ist es unerläßlich, daß jedes menschliche Geschöpf dem römischen Pontifex maximus untertan sei.«
Daraufhin rief Philipp IV. ein Konzil zusammen, das den Papst wegen Ketzerei, Blasphemie, Mord, Sodomie, Simonie und Hexerei (einschließlich des Verkehrs mit einem Geist oder Dämonen) und der Verletzung der Fastenzeit richten sollte. Zur selben Zeit entwarf der Papst eine Bulle, um den König zu exkommunizieren, was Philipp mit Waffengewalt beantwortete. Am 7. September 1303 nahmen die Truppen des Königs mit Hilfe antipapistischer italienischer Einheiten den 86jährigen Papst in seinem Sommersitz in Anagni bei Rom gefangen. Sie taten dies, um der Exkommunikation zuvorzukommen und den Papst mit Gewalt vor das Konzil zu bringen. Nach dreitägigen Tumulten befreiten die Einwohner von Anagni den Papst, aber der Schock der unerhörten Tat war tödlich, Bonifatius starb nach Monatsfrist.
Der Angriff auf den Heiligen Stuhl brachte die Gläubigen
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