Der ferne Spiegel
nun härter. Berichte aus anderen Städten hatten ergeben, daß es keine Absprachen gab, sondern daß die Aufstände unabhängig voneinander ausgebrochen waren. Starke Truppenkontingente sammelten sich in Vincennes, und in Paris stieg die Angst vor Bestrafung. Es gelang dem Hof, die Führer der Stadt so weit einzuschüchtern, daß sie vierzig »Rädelsführer« des Aufstands auslieferten,
von denen zur Empörung des Volkes vierzehn öffentlich hingerichtet wurden. Andere wurden der Chronik des Mönchs von St. Denis zufolge auf königlichen Befehl insgeheim im Fluß ertränkt. Mit wachsendem Selbstbewußtsein schickten die Herzöge den König nach Rouen, um dort Strafgericht zu halten. In flagranter Verletzung der versprochenen Amnestie wurden zwölf der Führer des Aufstands in Rouen hingerichtet, die Sturmglocke abgenommen, die Ketten, mit denen die Straßen gesperrt werden konnten, beseitigt, Geldbußen auferlegt und die Stadtrechte von Rouen widerrufen. Die Verwaltung der Stadt übernahm ein königlicher Vogt. Durch dieses Exempel eingeschüchtert, sprachen sich die Stände der Normandie für eine Verkaufs-, Einkommens- und Salzsteuer aus. Im Zuge der Unterdrückung der Aufstände fand die Krone zugleich Gelegenheit, ihre Schatzkammer zu füllen und, was bedeutender war, Stadtrechte für nichtig zu erklären und so die königliche Macht auszudehnen.
Der Zorn von Paris allerdings war noch lange nicht unterdrückt, und gefährliche Ereignisse in Gent gaben der Furcht vor einem allgemeinen Aufstand neue Nahrung. Der Kampfruf der Solidarität »Vive Gant. Vive Paris no’ mere!« erscholl in allen Städten von der flämischen Grenze bis an die Loire.
In Gent waren die »Weißen Kapuzen« aus den Tagen des Jakob van Artevelde wieder aufgetaucht. Eine Volksmiliz wurde zusammengestellt, und ihr Führer war Arteveldes Sohn Philipp, ein kleiner, scharfäugiger Mann von aggressiver Energie und »einschmeichelnder Eloquenz«, der vor allem aufgrund der Aura, die seinen Namen umgab, gewählt worden war. Es gelang Philipp, die chronisch zerstrittenen Stände der belagerten Stadt erstmals gegen den Grafen von Flandern zusammenzuschließen. Aber auch der flämische Adel und die städtischen Magnaten stellten sich nun angesichts dieser wahrhaft revolutionären Bedrohung geschlossen hinter den Grafen.
Vom Hunger zermürbt, stimmte Gent im April 1382 Verhandlungen zu. Der Graf, der sich nun seiner Sache sicher wähnte, forderte, daß alle Genter zwischen fünfzehn und sechzig barhäuptig und im Hemd mit einem Strick um den Hals den halben Weg nach Brügge wandern sollten, wo er bestimmen wollte, wie viele der
Einwohner begnadigt und wie viele hingerichtet werden sollten. Als ihnen diese Bedingungen mitgeteilt wurden, standen die Genter bei ihrer Versammlung auf dem Marktplatz vor der Entscheidung zwischen drei Möglichkeiten – sich zu unterwerfen, zu verhungern oder anzugreifen. Man wählte die dritte: Eine Armee von fünftausend der besten Krieger von Gent bahnte sich ihren Weg nach Brügge, dem Hauptquartier der gräflichen Partei. Das Ergebnis war einer der aufsehenerregendsten Überraschungssiege des Jahrhunderts.
Die Miliz von Brügge, nicht weniger siegesgewiß als der Graf selbst, trank und feierte die Nacht hindurch und stolperte am nächsten Morgen, dem 5. Mai, brüllend und singend vor die Tore der Stadt. Vergeblich versuchten der Graf und seine Ritter, sie zurückzuhalten und ein geordnetes Vorrücken durchzusetzen. Eine Salve von Stein- und Eisenkanonenkugeln, gefolgt von einem Angriff der Genter, mähte sie nieder. Die panische Flucht schwemmte die flämischen Ritter mit davon. Louis de Male, der Graf, stürzte vom Pferd und entging bei seinen Versuchen, seine Truppen in der Nacht bei Laternenlicht zu sammeln, nur dadurch der Gefangennahme, daß er die Kleidung mit seinem Diener tauschte. Er entkam zu Fuß und verbarg sich in der Hütte einer armen Frau. »Kennst du mich?« fragte er sie. »O ja, Monseigneur, ich habe oft an Eurer Tür gebettelt.« Von einem seiner Ritter aufgefunden, mußte er mit einem ungesattelten Bauernpferd vorliebnehmen und ritt so nach Lille, eine weit weniger glückliche Reise als jene vor langer Zeit, als er so entschlossen vor der Heirat mit Isabella davongaloppiert war.
Gent bekam nun Nachschub und Unterstützung von anderen Städten unter dem Schlachtruf »Tout un! (Alle eins!)«. Nachdem er Brügge besetzt und fünfhundert seiner vornehmsten Bürger als Geiseln genommen hatte,
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