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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
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Qual, Tagen des Unheils und des Elends« erschien vielen der Aufstand der arbeitenden Menschen lediglich als eine Drangsal mehr unter vielen, eine
Heimsuchung, die wie der Schwarze Tod den Zorn Gottes anzeigte. Selbst die französischen Überfälle an der englischen Küste konnten, wie der Mönch Walsingham vorschlug, als Zeichen Gottes gedeutet werden, der »die Menschen durch solche Schrecken zur Reue aufrief«. So gesehen vermittelten die Revolten keine politische Botschaft. »Der Mensch kann nie ändern«, notierte ein Tagebuchschreiber in Florenz zu dieser Zeit, »was Gott als Strafe für unsere Sünden verfügt.«
     
    Welche Wirkung der Bauernaufstand in England auf die revolutionäre Stimmung auf dem Kontinent hatte, ist unsicher. Wie auch immer, der Krieg und sein begleitender Dämon, die Steuerlast, waren auch allein genug, die Unzufriedenheit zu nähren. Dennoch: Der Krieg muß auch eine andere Seite gehabt haben, die Arbeit gab und Geld unter die Leute brachte – unter Waffenschmiede, Kutscher, Getreidehändler, Bäcker, Pferdezüchter und hundert andere Berufe neben den Bogenschützen, Fußsoldaten und Dienstleistenden in der Armee. Die Zeitgenossen schweigen über das Thema des Krieges als ökonomische Antriebskraft, aber sie schreiben viel über die ungerechten Lasten, die der Arme zu tragen hatte. »Es sollte ein festes Prinzip sein«, schrieb Villani, »daß der Krieg nicht aus den Börsen der Armen bezahlt wird, sondern vielmehr von denen, die die Macht besitzen.« [Ref 294]
    Dies war kein Prinzip, das der Herzog von Anjou anzuerkennen bereit war, dessen rücksichtslose Jagd auf Geld eine neue Welle von Aufständen in Frankreich auslöste, die im Februar 1382 begannen. Sein Ziel, auf erblichem Weg die Krone von Neapel zu gewinnen, war gerade dadurch gefährdet, daß ein Rivale die Königin Johanna abgesetzt hatte. Gegen den Rat von Coucy, den er wiederum aus der Picardie herbeigerufen hatte, um seine Meinung zu hören, war Anjou versessen darauf, eine Armee nach Italien zu führen. Bei einem Zusammentreffen mit dem Vorsteher der Kaufleute und den wichtigsten Bürgern im Januar 1382 war es ihm irgendwie gelungen, ihnen neue Steuern auf Wein, Salz und andere Waren abzuringen. Aus Furcht vor der Reaktion des Volkes wurde die Besteuerung im geheimen erlassen und auch der oberste Einnehmer, ein Posten, um den sich viele bewarben, hinter verschlossenen Türen
ausgewählt. Nicht weniger furchtsam, blieb auch der königliche Hof in Vincennes vor den Mauern der Stadt. Als die Händler und Reisenden die Nachricht von der neuen Steuer verbreiteten, wurde sie von einem einzigen Aufschrei wütenden Protests begrüßt, und spontane Erhebungen wüteten in Laon, Amiens, Reims, Orléans und Rouen in der sogenannten »Harelle«.
    Als die Provinz mühsam wieder befriedet schien, erhob sich Paris. Bis dahin hatte es noch niemand gewagt, die neue Steuer in der Öffentlichkeit zu verkünden. Schließlich ritt ein Herold, dem man eine Sonderbelohnung in Aussicht gestellt hatte, auf den Marktplatz und setzte zunächst, um die Aufmerksamkeit des Volkes zu gewinnen, eine Belohnung auf die Wiederbeschaffung einer Goldrüstung aus, die aus dem Palast gestohlen worden war. Dann schrie er die Nachricht von der neuen Steuererhebung hinaus, gab seinem Pferd die Sporen und preschte davon. Als die Neuigkeit sich in den Straßen verbreitete, sammelten sich die Menschen in wütenden Gruppen, schworen »schreckliche Eide«, niemals zu zahlen, und planten den Widerstand. Unter den festgenommenen Agitatoren fanden sich Träger, Kerzenmacher, Kesselflicker, Kuchenbäcker und Scherenschleifer – die kleinen Händler, Handwerker und Dienstleistenden von Paris. Am nächsten Morgen, dem 1. März, verlangte ein Steuereinnehmer Zahlung von einer Marktfrau, die Wasserkresse verkaufte. Die Marktleute von Les Halles stürzten sich auf ihn und erschlugen ihn.
    Augenblicklich war Paris in Aufruhr. Männer liefen durch die quartiers und riefen ihre Nachbarn auf, sich »für die Freiheit des Landes« zu bewaffnen. »Wenn ihr nicht mit uns zu den Waffen greift«, schrie einer, »erschlagen wir euch in euren eigenen Häusern! « Dann drang die Menge »in einem schrecklichen Tumult« in das Hôtel de Ville am Place de Grève ein, wo sie die dreitausend langstieligen Hämmer, die normalerweise von der Polizei benutzt wurden, an sich nahmen und verteilten. Mit einem zylindrischen Kopf aus Blei versehen und mit beiden Händen zu führen, waren diese

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