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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
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Oberbefehlshaber Sir Robert Knollys, so schnell wie möglich eine bewaffnete Truppe aufzustellen. Wat Tyler, von Blutvergießen und Eroberung entflammt, trieb seine Gefolgsleute an, unter der herrschenden Schicht in London ein Massaker anzurichten und selbst die Macht in London zu übernehmen. Die Freibriefe des Königs konnten ihn nicht beschwichtigen, er war zu mißtrauisch, und er wußte, daß er keine Chance hatte, in eine Generalamnestie eingeschlossen zu werden. Ihm blieb nur ein Weg: vorwärts zur Übernahme der ganzen Macht. Nach Walsingham prahlte er, daß »in vier Tagen alle Gesetze Englands aus seinem Mund kommen würden«.
    Er kehrte in das Lager in Smithfield zurück, um sich noch einmal mit dem König zu treffen. Dem legte er ein neues Bündel von Forderungen vor, die so extrem waren, daß sie die Ablehnung geradezu provozierten und ihm den Vorwand liefern konnten, den König selbst zu ergreifen: Alle Ungleichheiten in Rang und Status sollten beseitigt werden, alle Menschen unter dem König gleich sein, die Kirche enteignet und ihr Besitz unter die Gemeinen verteilt werden; England sollte fortan nur einen Bischof haben und die gesamte Hierarchie beseitigt werden. Der König versprach, alles zu tun, was sich mit der »königlichen Würde der Krone vertrug«. Berichte über die darauf folgenden Momente sind so durch die Leidenschaften jener Zeit verfärbt, daß die Szene für immer im dunkeln bleiben wird. Anscheinend provozierte Tyler einen Streit mit einem Knappen im Gefolge des Königs, zog den Dolch und wurde selbst blitzschnell von dem kurzen Schwert des Bürgermeisters von London, William Walworth, niedergemacht.
    Es war eine Szene wilder Verwirrung und Hektik. Die Bauern griffen zu ihren Bogen, einige Pfeile flogen. Mit außerordentlicher Kaltblütigkeit befahl Richard seinem Gefolge zurückzubleiben und ritt alleine vorwärts. »Sirs, was wollt ihr?« rief er die Bauern an. »Ich bin euer Führer. Ich bin euer König. Beruhigt euch.« Während er mit ihnen sprach, ritt Knollys’ Truppe heran und umzingelte mit gezogenen Waffen und geschlossenen Visieren das Lager. Verstört und führungslos, ließen sich die Bauern einschüchtern; der Anblick von Wat Tylers Kopf auf einer langen Lanze führte zu ihrem vollständigen Zusammenbruch, ähnlich dem der Jacques nach dem Tod von Guillaume Cale.

    Sie legten ihre Waffen nieder und zogen mit der Zusicherung einer Amnestie nach Hause. Ihre Führer, darunter John Ball, wurden gehängt und die Erhebung in anderen Teilen Englands unterdrückt – in großer Brutalität, wenn auch nicht mit jenen wilden Massakern, die in Frankreich die Jacquerie getroffen hatten. Auch die englische Revolte war sehr schnell, innerhalb eines Monats, vorüber, besiegt mehr durch Betrug als durch Kampf. Die Amnestie, die der König verkündet hatte, wurde annulliert und die Freibriefe vom Parlament für nichtig erklärt, da sie unter Zwang erlassen worden seien. Einer Bauernabordnung aus Essex, die nach London gekommen war, um den König an sein Versprechen zu erinnern, die faktische Leibeigenschaft der unfreien Bauern zu beenden, antwortete Richard II.: »Leibeigene seid ihr, und Leibeigene sollt ihr bleiben.« [Ref 293]
    Die Vorstellungen der Autokraten hinken oft hinter ihrer Zeit her. Die ökonomische Entwicklung trieb die Leibeigenschaft schon seit langem ihrem Ende entgegen, und die Umwandlung in das Zinsbauerntum setzte sich fort, allen Unterdrückungsmaßnahmen zum Trotz, bis der unfreie Bauer praktisch verschwand. Ob der Bauernaufstand diesen Prozeß beschleunigte oder verlangsamte, bleibt dunkel, aber das direkte Ergebnis ermutigte die herrschende Klasse noch in ihrer gleichmütigen Selbstzufriedenheit, allen voran den König. Vielleicht durch seinen Erfolg geblendet, entwikkelte Richard alle Instinkte eines absolutistischen Herrschers – mit einer Ausnahme: der Härte gegen seine Opponenten, und diesem Mangel sollte er später zum Opfer fallen. Das Militär sah keine Notwendigkeit für Verbesserungen; die Kirche versteifte sich gegen jede Reform. Von den Gleichheitsforderungen der Lollhardenpriester alarmiert, wandte sich die privilegierte Klasse gegen sie. In Gowers »Verderbtheiten des Zeitalters« griff der Dichter sie als Agitatoren einer Trennung von Kirche und Staat an, die von Satan in die Welt gesandt seien. Die Lollharden gingen in den Untergrund, und die protestantische Trennung von Rom war um lange Zeit aufgeschoben.
    In diesen »Tagen des Zorns und der

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