Der ferne Spiegel
Würfel auf dem Altar, aßen schwarze Puddings und Würste, während eine Messe zelebriert wurde, die nur aus unsinnigem Gestammel bestand. Dazu schwangen sie Weihrauchfässer aus alten Schuhen, denen ein »schrecklicher Gestank« entwich. Während sie die Zeremonien des Gottesdienstes höhnend imitierten, trugen sie Tiermasken und waren als Frauen oder Sänger verkleidet, sie sangen obszöne Lieder im Chor, sie heulten und schrien, während der »Papst« eine verballhornte Segensformel vorlas. Auf seine Aufforderung hin, ihm zu folgen, zogen sie ungestüm von der Kirche in die Stadt. Sie führten ihren »König« in einer Karre mit sich, von wo aus er scherzhafte Bußen in die Menge schrie. Sein Gefolge zischte, gackerte, spottete und gestikulierte dazu. Sie brachten die Anwesenden mit »ungebührlichen Vorführungen« zum Lachen und ließen Büttenredner mit seltsamen Predigten auftreten. Nackte Männer zogen Mistkarren und warfen deren Inhalt unter die Umstehenden. Saufereien und Tänze begleiteten die Prozession. Das Ganze war eine Verspottung der allzu bekannten, langweiligen und bedeutungslosen Rituale, ein »Ausbruch des Barbaren unter dem Priesterrock«.
Im täglichen Leben war die Kirche der Tröster, Schützer und Arzt. Die Heilige Jungfrau und die Gemeinschaft der Heiligen boten Zuflucht vor Verfolgung und Schutz gegen Übeltäter und Feinde, die überall lauerten. Handwerkszünfte, Städte und Berufe hatten genauso ihre eigenen Schutzheiligen wie jeder einzelne Mensch. Die Bogenschützen beteten zu St. Sebastian, der ein Opfer der Pfeile geworden war; die Bäcker verehrten St. Honorius, der einen silbernen Ofenschieber und drei Brotlaibe in seinem Banner führt; die Seeleute glaubten an St. Nikolaus, der drei Kinder aus der See gerettet hatte; die Reisenden hatten den St. Christopherus,
der das Jesuskind auf seinen Schultern trug; mildtätige Bruderschaften wählten gewöhnlich den heiligen Martin zu ihrem Schutzheiligen, da er die Hälfte seines Mantels einem armen Manne gegeben hatte; unverheiratete Mädchen schworen auf die heilige Katharina, die sehr schön gewesen sein soll. Der Schutzpatron war ein ständiger Begleiter auf dem Lebensweg, er heilte kleine Wunden, milderte das Elend und wirkte in Notfällen sogar Wunder. Sein Bildnis wurde auf Prozessionen vorangetragen, es schmückte die Eingänge zu Stadthallen und Kapellen und wurde als Medaillon am Hut seiner Schutzbefohlenen getragen.
Vor allen anderen aber war die Jungfrau Maria die ewig gnadenvolle, immer zuverlässige Quelle des Trostes, voller Mitleid mit den menschlichen Schwächen. Sie kümmerte sich nicht um Gesetze und Richter, sie half jedem in Not, sie war inmitten aller Ungerechtigkeiten, Verletzungen und sinnlosen Gewalttätigkeiten die einzig unfehlbare Gestalt. Sie befreite die Gefangenen aus dem Verlies und belebte die Hungernden mit Milch aus ihren eigenen Brüsten. Wenn eine Bauersfrau ihr an einem Dorn erblindetes Kind zur Kirche von St. Denis trug, niederkniete und ein Ave-Maria aufsagte, das Kreuz über dem Kind schlug und es mit einer Reliquie segnete – einem Nagel aus dem Kreuz des Erlösers –, »fiel sofort«, so berichtet der Geschichtsschreiber, »der Dorn heraus, die Entzündung verschwand, und die Mutter kehrte glücklich mit dem geheilten Kind nach Hause zurück«. [Ref 31]
Auch ein grausamer Mörder fand ihr Gehör. Unabhängig davon, welches Verbrechen jemand begangen hatte, ob alle Welt die Hand gegen ihn hob oder nicht, der Weg zur Jungfrau Maria war nie versperrt. In den Miracles de Notre-Dame , einem Zyklus populärer Stücke, der in den Städten aufgeführt wurde, errettet die Jungfrau jeden, der reumütig die Hand nach ihr ausstreckt. Eine Frau, die des Inzestes mit ihrem Schwiegersohn angeklagt ist, hat Mörder gekauft, ihn umbringen zu lassen, und soll, überführt, auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden. Sie betet zur Heiligen Jungfrau, die prompt erscheint und dem Feuer befiehlt, nicht zu brennen. Die Magistratsherren, überzeugt, daß ein Wunder geschehen ist, befreien die Verurteilte, die ihr Hab und Gut an die Armen verschenkt und ins Kloster geht. Der Glaubensakt in Form des
Gebets zählte allein. Nicht Gerechtigkeit erwartete man von der Kirche, sondern Vergebung.
Aber die Kirche tröstete nicht nur, sie gab auch Antworten. Seit fast tausend Jahren schon war die Kirche die Institution, die dem Leben in einer widersprüchlichen Welt Sinn und Bedeutung gab. Sie bestätigte, daß das irdische
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