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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
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Leben des Menschen nichts anderes als eine Exilstation auf dem Wege zur ewigen Seligkeit war, zum neuen Jerusalem, zu unserer »anderen Heimat«. Das Leben war nichts anderes, schrieb Petrarca an seinen Bruder, als »eine schwere und entbehrungsreiche Reise zu der ewigen Heimat, die wir suchen, oder sollten wir die Erlösung verfehlen, eine ebenso freudlose Reise in den ewigen Tod«. Die Kirche versprach Erlösung, die nur durch ihre Rituale erreicht werden konnte, nur durch den Beistand und die Hilfe der geweihten Priester. »Extra ecclesiam nulla salus.« Außerhalb der Kirche gibt es kein Heil, das war die Losung. [Ref 32]
    Die Alternative zur Erlösung waren Hölle und ewige Qual, wie sie sehr realistisch von der Kunst der Zeit dargestellt wurden. In der Hölle hingen die Verdammten mit ihren Zungen an Feuerbäumen, die Unbußfertigen schmorten in Feueröfen, und die Ungläubigen erstickten in stinkendem Rauch. Die Bösen fielen in das schwarze Wasser eines Abgrunds bis zu einer Tiefe, die ihren Sünden entsprach: die Unzüchtigen bis zu den Nasenlöchern, die Grausamen bis an die Augenbrauen. Einige wurden von monströsen Fischen verschlungen, andere von Dämonen zerfressen, wieder andere von Schlangen gequält, von Feuer, Eis oder vom Anblick von Früchten, die außerhalb der Reichweite der Dürstenden hingen. Die Menschen in der Hölle waren nackt, namenlos und vergessen. Kein Wunder, daß alle Welt auf Erlösung hoffte und der Tag des Jüngsten Gerichts in aller Köpfen gegenwärtig war. Über den Türen der Kathedralen war zur eindringlichen Erinnerung dargestellt, wie die zahlreichen Sünder, von den Teufeln gefesselt, zu flammenden Kesseln geführt wurden und wie die wenigen Auserwählten von Engeln in die entgegengesetzte Richtung geleitet wurden.
    Im Mittelalter bezweifelte niemand, daß die Mehrheit der Menschen auf ewig verdammt sein würde. »Salvandorum paucitas, damnandorum multitudo« (wenige gerettet, viele verdammt), war das strenge Prinzip von Augustinus bis hin zu den Aquinensern.
Noah und seine Familie wurden als Maßstab genommen, um die Zahl der Erretteten zu versinnbildlichen. Gewöhnlich wurde von einem unter tausend oder gar zehntausend gesprochen. Egal, wie wenige auserwählt sein würden, die Kirche gab allen Hoffnung. Ungläubige waren auf immer von der Erlösung ausgeschlossen, nicht aber die Sünder. Die Sünde war ein unausweichlicher Bestandteil des Lebens, aber sie konnte, so oft es nötig war, durch Buße und Absolution abgewaschen werden. »Kehr um, kehr um, du sündige Seele«, so sprach ein Lollhardenprediger, »denn Gott kennt deine Missetaten und wird dich doch nicht verlassen. Wende dich mir zu, so spricht der Herr, ich werde dich aufnehmen und dich zur Gnade führen.«
    Die Kirche gab dem Leben derer Weihen und Würden, die von beidem wenig hatten. Sie war die Quelle von Schönheit und Kunst, zu der jeder Zugang hatte, an der viele mitwirkten. Die Kirche förderte auch die Sorge um die Hilflosen der Gesellschaft, die Armen und Kranken, die Waisen und Krüppel, die Leprakranken, die Blinden und Irren. Sie bestärkte die Gläubigen darin, Almosen zu geben, damit sie sich einen Platz im Himmel erwürben. [Ref 33]
    Trotz allem erhob sich der Sturm der Unzufriedenheit. Päpstliche Steuereintreiber wurden angegriffen und geschlagen, sogar Bischöfe waren nicht mehr sicher. In einem Ausbruch antiklerikaler Wut köpfte 1326 eine Londoner Volksmenge den Bischof und warf den Körper nackt auf die Straße. 1338 verbündeten sich zwei »Kirchenrektoren« mit zwei Rittern und »einer großen Menge Landvolk«, um den Bischof von Konstanz anzugreifen. Sie verwundeten einige aus seinem Gefolge schwer und warfen ihn ins Gefängnis. In Italien erstarkten die Fraticelli, eine Abspaltung des Franziskanerordens, die zum Armutsgelübde zurückkehrten und mit ihrem Vorbild zu einer Gefahr für die etablierte Kirche wurden. Die Fraticelli oder »spirituellen Franziskaner« erinnerten daran, daß Christus ohne jeden Besitz gelebt habe, und predigten, daß Armut die einzige Möglichkeit einer wahren »Christusnachfolge« sei.
    Die Bewegung der »armen« Orden erwuchs aus der Grundlage der christlichen Lehre: der Ablehnung der materiellen Welt, der Gedanke, der den Bruch mit der Antike herbeigeführt hatte. Er besagte, daß das Heil einzig bei Gott zu suchen sei und daß das Erdenleben
vergänglich sei, daß die Welt unabänderlich böse und die Erlösung nur durch den Verzicht auf irdische

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