Der ferne Spiegel
Genüsse, Reichtümer und Ehren zu gewinnen sei. Geld war von Übel, Schönheit eitel, und beides war vergänglich. Ehrgeiz war Stolz, Besitzstreben war Habsucht, Sehnsucht nach dem Fleisch war Lust, nach Wissen und Schönheit Hoffart. Da all diese Dinge den Menschen davon ablenkten, sein Seelenheil zu suchen, seien sie Sünde. Das christliche Ideal war asketisch, es bedeutete die Selbstverleugnung des sinnlichen Menschen. So wurde das Leben unter der Herrschaft der Kirche zu einem ständigen Kampf gegen die Sinnlichkeit, in deren Gestalt die Sünde zu einem Begleiter des Menschen wurde.
Den Weg zu Gott glaubten verschiedene mystische Sekten dadurch zu finden, daß sie den weltlichen Versuchungen völlig entsagten und sich von der Fessel irdischen Besitzes befreiten. Angesichts ihres eigenen Reichtums kam die Kirche nicht umhin, diese Sekten als ketzerisch zu verdammen. Die Fraticelli zum Beispiel beharrten auf dem christlichen Ideal absoluter Armut und waren dem Papst bald ein Dorn im Auge. Im Jahre 1315 verdammte er ihre Lehre als »falsche und schädliche« Ketzerei. Als der Bettelorden seinen Zielen aber nicht abschwor, wurden seine Mitglieder summarisch exkommuniziert. Eine Gruppe von 27 besonders hartnäckigen Anhängern der spirituellen Franziskaner wurde der Inquisition übergeben; vier von ihnen wurden 1318 in Marseille auf dem Scheiterhaufen verbrannt.
Nicht nur religiösen, auch weltlichen Herausforderungen seiner Macht hatte der Papst zu begegnen. Sein Recht auf die Kaiserkrönung wurde bezweifelt und sein Einfluß auf die staatlichen Regierungen kritisiert. Marsilius von Padua hatte 1324 die Souveränität des Staates in seinem Buch Defensor Pacis behauptet. Der Papst versuchte dem mit Exkommunikation zu begegnen. Nach Marsilius verwies Johannes XXII. den englischen Franziskaner Wilhelm von Ockham, der wegen seiner Argumentationskraft der »unbesiegbare Doktor« genannt wurde, aus der Kirche. Unter dem Begriff des »Nominalismus« hatte Ockham eine Philosophie entwickelt, die die Tür zu einer intuitiven Erkenntnis der wirklichen Welt aufstieß. In gewissem Sinne war er ein Anwalt geistiger Freiheit, und der Papst erkannte die Gefahren, die darin für die Kirche
lagen, und exkommunizierte ihn. Als Erwiderung darauf klagte Ockham den Papst in einer Streitschrift als Urheber von siebzig Irrtümern und sieben Ketzereien an.
Als sich die Unzufriedenheit der Kirche mit der wirtschaftlichen Not im Gefolge der Hungersnöte verband, entstand in Frankreich unter den Bauern eine hysterische Massenbewegung, die man die Pastorellen nannte, nach »pastor«, der Hirte, da die Unruhen unter den Hirten begonnen hatten. Obwohl die Bauern weniger entwurzelt waren als die städtischen Armen, fühlten auch sie sich von ihren Herren unterdrückt und kämpften gegen die beständigen Versuche, ihnen durch das eine oder andere Mittel noch mehr von ihren Erträgen oder von ihrer Arbeitskraft abzupressen. In verschiedenen Berichten lassen sich bis 1250 Gerichtsprozesse zurückverfolgen, die beweisen, daß sich die Bauern organisiert geweigert haben, die Felder ihrer Herren zu pflügen, deren Getreide zu dreschen, ihr Heu zu wenden oder in ihren Mühlen zu mahlen. Trotz Geld- und Prügelstrafen waren sie jahrelang standhaft und verweigerten den Dienst. Sie schlossen sich zu Gruppen zusammen, die den örtlichen Büttel angriffen oder einen »Bruder« aus dem Gefängnis befreiten.
Schon lange hatte die Unterdrückung der Bauern durch die Landbesitzer das Gewissen der Zeit gequält, und warnende Stimmen hatten sich erhoben. »Ihr Adligen seid wie hungrige Wölfe«, schrieb Jakob von Vitry, Verfasser von Predigten und moralischen Fabeln im 13. Jahrhundert. »Darum sollt ihr in der Hölle heulen. . . . die ihr eure Untergebenen mißhandelt und die ihr von dem Blut und dem Schweiß der Armen lebt.« Wieviel ein Bauer auch in einem Jahr erarbeitet, »der Ritter, der Adlige verschlingt es in einer Stunde«. Er erhebt illegale Abgaben und Steuern. Jakob von Vitry [Ref 34] warnte die Großen, die Niedrigen nicht zu verachten oder ihren Haß zu wecken, denn, »da sie uns helfen können, können sie uns auch schaden. Ihr wißt, daß viele Leibeigene ihre Herren getötet und ihre Häuser verbrannt haben.«
Eine in der Zeit der Hungersnöte verbreitete Prophezeiung sagte voraus, daß die Armen sich gegen die Mächtigen erheben würden, um die Kirche und ein ungenanntes großes Königreich zu
zerstören. Nach dem Blutvergießen würde
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