Der ferne Spiegel
versammelten Menge der Adligen, der Geistlichkeit und des Volkes sein Geständnis zu wiederholen. Anschließend sollten sie
durch päpstliche Legaten zu lebenslanger Gefangenschaft verurteilt werden. Statt dessen erklärten sie mit lauter Stimme ihre Schuldlosigkeit und die des Ordens. Um seine endgültige Rechtfertigung betrogen, befahl der König, beide Männer auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen. Als die Flammen am nächsten Tag das Reisig entzündeten, wiederholte Jacques de Molay seine Unschuldsbehauptung und rief aus, daß Gott selbst sein Rächer sein werde. Aufgrund einer späteren Überlieferung soll er den König und seine Nachkommenschaft bis in die dreizehnte Generation verflucht haben, und mit seinen letzten Worten soll er gesagt haben, daß er Papst und König innerhalb des nächsten Jahres vor dem Richterstuhl Gottes treffen werde. Tatsächlich starb Papst Klemens V. im folgenden Monat, sieben Monate später folgte ihm Philipp der Schöne ins Grab, der im Alter von 46 Jahren ohne sichtbaren Anlaß starb. Die Legende vom Fluch der Templer wurde weitergetragen und diente dazu, die rätselhaften Ereignisse der Folgezeit zu erklären. Ein Gehirnschlag wird heute für Philipps Todesursache gehalten, aber für die Zeitgenossen war es unzweifelhaft der Fluch der Templer, der mit dem Rauch des Scheiterhaufens in die rote Glut der untergehenden Sonne gestiegen war. [Ref 37]
Wie um den Fluch der Templer zu erfüllen, welkte die Dynastie der Kapetinger in dem seltsamen, sich dreifach wiederholenden Schicksal der Söhne Philipps dahin. LudwigX., Philipp V. und Karl IV. starben in rascher Folge, ohne daß einer von ihnen länger als sechs Jahre regiert hätte, im Alter von 27, 28 beziehungsweise 33 Jahren. Keiner von ihnen hinterließ einen männlichen Nachkommen, obwohl sie zusammen sechs Frauen hatten; Jeanne, die vierjährige Tochter des ältesten Bruders, wurde zugunsten ihres Onkels übergangen, der als König Philipp V. gekrönt wurde. Danach rief er eine Versammlung aus Honoratioren der drei Stände und der Universität von Paris zusammen, die sein Recht auf die Krone bestätigten und festlegten, daß »keine Frau den Thron von Frankreich besteigen« dürfe. Damit war das folgenschwere Salische »Gesetz« geboren, das der weiblichen Thronfolge einen Riegel vorschob, den es bis dahin nicht gegeben hatte.
Der Tod des letzten der drei Brüder ließ die Thronfolge offen,
was zum – bisher – längsten Krieg der westlichen Geschichte führte. Es gab drei Prätendenten, einen Enkel und zwei Neffen Philipps des Schönen. Der Enkel war der sechzehnjährige Eduard III. von England, Sohn von Philipps Tochter Isabella, die Eduard II. geheiratet hatte. Von ihr wurde behauptet, daß sie und ihr Liebhaber mit den Mördern ihres Mannes, des Königs, im geheimen Einverständnis gestanden habe. Außerdem sollte sie einen schädlichen Einfluß auf ihren Sohn gehabt haben. Dessen entschlossen vorgetragener Anspruch auf direkte Erbfolge fand aber in Frankreich kein Gehör, nicht weil sein Anspruch von einer Frau herstammte, sondern weil diese Frau in Frankreich gefürchtet und unbeliebt war, und außerdem wollte niemand den englischen König auf dem französischen Thron.
Die anderen beiden Anwärter waren Söhne eines Bruders beziehungsweise eines Halbbruders Philipps des Schönen; es waren Philipp von Valois und Philipp von Evreux. Der eine, ein Mann von 35 Jahren, Sohn eines glanzvollen Vaters und Hof und Adel Frankreichs wohlbekannt, war der sehr viel beliebtere der beiden und wurde von den Landesherren und Fürsten Frankreichs ohne Gegenstimmen zum König gekrönt. Als Philipp VI. begann er die Linie derer von Valois. Seine beiden Widersacher nahmen die Wahl in aller Form an. Eduard kam selbst, um seine Hände in die von Philipp VI. zu legen, wozu ihn seine Lehnspflicht als Herzog von Aquitanien verpflichtete. Philipp von Evreux wurde mit dem Königreich von Navarra entschädigt und zusätzlich mit der übergangenen Johanna verheiratet.
Obwohl Philipp VI. einen aufwendigen Hofstaat unterhielt, war er nicht als königlicher Nachfolger erzogen worden und ließ einiges von einem wahrhaft königlichen Charakter missen. Er schien sich außerdem seines Anspruchs auf die Krone nicht ganz sicher zu sein, was wohl auch kaum durch die Redensarten seiner Zeitgenossen überspielt werden konnte, die ihn »le roi trouvé« nannten, den »gefundenen König« – als ob sie ihn im Schilf entdeckt hätten. Vielleicht waren es
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