Der ferne Spiegel
zerbrochen.« [Ref 393]
Die Empfindung selbst war nicht neu, aber im 14. Jahrhundert war sie verbreiteter, und sie wurde in einem deutlich verächtlicheren Ton der Menschheit gegenüber vorgetragen. »Die Vergangenheit besaß Tugend und Rechtschaffenheit, aber heute herrscht nur das Laster«, klagt Deschamps. Wie sollte man Freibriefen oder dem freien Geleit noch trauen, fragte Christine de Pisan in einer Diskussion des Verfalls aller ritterlichen Sitten, »da doch dieser Tage so wenig Wahrheit und Treue in der Welt zu finden ist?« An anderer Stelle schreibt sie: »Alle guten Sitten versagen, und die Tugenden sind billig geworden. Die Gelehrsamkeit, die einst herrschte, bedeutet nun nichts mehr.« Ihre Klage war gerechtfertigt, denn selbst die Universität war dahin gekommen, Grade der Theologie an Kandidaten zu verkaufen, die nicht willens waren, das lange und schwierige Studium auf sich zu nehmen, oder die Angst hatten, im Examen durchzufallen. Lizenzen, die den Verkauf oder die Vergabe des Grades erlaubten, wurden an andere Universitäten vergeben, selbst an Städte, die gar keine Universität hatten, was das sarkastische Sprichwort inspirierte: »Warum nicht einen Grad der Universität Schweinestall?« Es war Mode, die Dekadenz des Zeitalters zu geißeln, aber diese Dekadenz wurde als real empfunden, und das
Gefühl des moralischen Abstiegs gegenüber besseren Tagen war hartnäckig. Die Dichter schrieben für eben die Kreise, die sie tadelten – und sie müssen ein gewisses Echo gefunden haben. Deschamps, der unablässig schimpfte, wurde zum Kanzler Ludwigs von Orléans ernannt.
Alle Schichten der Gesellschaft bekamen ihren Anteil des Unwillens. Tief erschüttert vom Bauernaufstand schrieb Gower eine Jeremiade über die Verderbtheit der Epoche. Das Werk – Vox Clamantis – entfaltet »eine vielfache Pestilenz des Lasters« unter den Armen ebenso wie den Reichen. Ein unbekannter Autor einer anderen Klageschrift, Laster der verschiedenen Stände der Gesellschaft , befand, daß alle gleich schuldig seien: Die Kirche ist versunken in Schisma und Simonie, die Geistlichkeit und die Mönche leben in Dunkelheit, die Könige, Edlen und Ritter ergeben sich dem Luxus und dem Raub, die Kaufleute dem Zinswucher und dem Betrug, das Gesetz ist die Kreatur der Bestechung, die gemeinen Menschen stecken tief in Unwissenheit und werden von Räubern und Mördern bedrängt. [Ref 394]
Die Menschheit war an einem der großen Tiefpunkte der Geschichte angelangt. Um die Jahrhundertmitte hatte der Schwarze Tod die Frage heraufbeschworen, ob Gott dem Menschen feindlich sei, und die Ereignisse seit jener Zeit hatten wenig Beruhigendes gebracht. Den Zeitgenossen spiegelte die miseria die Sündigkeit der Epoche wider, und Sünde in der Form von Gier und Unmenschlichkeit war tatsächlich das beherrschende gesellschaftliche Element. Auf der niedergehenden Kurve des Mittelalters hatte der Mensch den Glauben an seine Fähigkeit, eine gute Gesellschaft zu erbauen, verloren.
Die Sehnsucht nach Frieden und nach einer Beendigung des Schismas war weit verbreitet. Ein Notar von Cahors sagte zu dieser Zeit, daß er seine Diözese in den sechsunddreißig Jahren seines Lebens niemals im Zustand des Friedens erlebt habe. Nachdenkliche Beobachter, die sich der verheerenden gesellschaftlichen Nachwirkungen des Kriegszustandes bewußt waren, nannten den Frieden die einzige Hoffnung auf Reform, auf die Wiedervereinigung der Kirche und auf erfolgreichen Widerstand gegen die Türken, die die
Donau erreicht hatten. In seinem Traum des alten Pilgers von 1389, mit dem er Karl VI. und Richard II. zum Friedensschluß überreden wollte, entwirft Mézières das pathetische und dramatische Bild einer alten Frau in zerlumpten Kleidern mit wirrem, grauem Haar, die an einem Stock geht und ein kleines, von Ratten zernagtes Buch trägt. Sie hieß ursprünglich Frömmigkeit, wird aber nun Verzweiflung genannt, da alle Menschen ihres Königreiches nun Sklaven Mohammeds sind; der christliche Handel ist gefährdet, die östlichen Festen der Christenheit bedroht von den Feinden des Glaubens.
»Veniat Pax!« Dieser Aufschrei Gersons in seiner berühmten Predigt war lange vorher schon in den Köpfen der Menschen. Nur wenige erkannten noch, wofür dieser Krieg geführt wurde. Gower in England hielt ihn nicht mehr für einen gerechten Krieg, sondern nur noch für eine Auseinandersetzung, die von »gierigen Lords« um des Gewinns willen aufrechterhalten wurde. Laßt uns
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