Der ferne Spiegel
die Elite Frankreichs und Burgunds geschlagen haben sollte, schien unvorstellbar; nichtsdestoweniger
stieg die Angst. Der König, der Herzog von Burgund, Ludwig von Orléans und der Herzog von Bar schickten jeweils eigene Gesandtschaften nach Venedig und Ungarn. Am 16. Dezember brachten Handelsschiffe die Nachricht von der Katastrophe von Nikopol und von Sigismunds Entkommen, aber Paris war auch Weihnachten noch ohne Gewißheit.
Am ersten Weihnachtstag betrat Jacques de Helly »in Stiefeln und Sporen« den Palast von St. Pol, wo sich der Hof für den Festtag versammelt hatte, und bestätigte auf den Knien vor dem König die schreckliche Wahrheit der Niederlage. Er berichtete von dem Feldzug, der entscheidenden Schlacht, den »glorreichen Gefallenen« und von Bajasids entsetzlicher Rache. Der Hof hörte ihn in größter Bestürzung an. Der König und die Herzöge befragten Helly in allen Einzelheiten. Die Briefe, die er von Nevers und den anderen Seigneurs überbrachte, waren die ersten Nachrichten von denen, die überlebt hatten, und, wenn es keinen Brief gab, von denen, die gefallen waren. Weinende Angehörige drängten sich um ihn, um das Schicksal von Sohn, Gatte oder Freund zu erfahren. Helly versicherte seinen Zuhörern, daß der Sultan Lösegelder annehmen würde, denn er »liebte Gold und Reichtümer«. Wenn man Froissart glauben kann (was nicht immer ratsam ist), drückten die anwesenden Seigneurs schließlich die Meinung aus, daß sie sich »glücklich schätzten, in einer Welt zu leben, in der solche Schlachten geschlagen wurden«. Ob dies nun wirklich so gesagt wurde oder nicht – bezeichnend ist, daß Froissart es für die angemessene Reaktion auf die Nachricht von der Niederlage hielt. [Ref 430]
Dem Mönch von St. Denis zufolge empfand der Adel »bittere Verzweiflung«, und »Kummer herrschte in allen Herzen«. Schwarze Kleidung tauchte überall auf, und Deschamps schrieb von »Trauerfeiern von Morgen bis Abend«. Am 9. Januar 1397 wurde ein feierlicher Gottesdienst für alle Gefallenen in der Hauptstadt und in den Provinzen abgehalten, »und es war erbarmungswürdig, das Schlagen der Totenglocken in allen Kirchen von Paris zu hören«. Kaum war die englische Heirat gefeiert worden und die Last des alten Krieges den Völkern von den Schultern genommen, als der Jubel wieder erstickte. Es war, als gönne Gott den Menschen keine Freude.
Die Damen von Frankreich trauerten tief um ihre Gatten und Liebhaber, »besonders«, sagt Froissart, immer bemüht, seinen Patron herauszustreichen, »die Dame de Coucy, die Tag und Nacht jämmerlich weinte und sich nicht trösten ließ«. Wahrscheinlich auf Anregung ihrer Brüder, des Herzogs von Lothringen und Ferrys de Lorraine, die gekommen waren, sie zu trösten und zu beraten, schrieb sie am 31. Dezember 1396 an den Dogen von Venedig mit der Bitte, ihr bei der Auslösung ihres Gatten behilflich zu sein. Zwei Boten – Robert d’Esne, ein Ritter aus Cambresis, und Jacques de Willay, châtelain von St. Gobain, ein Coucy-Besitz, wurden getrennt voneinander entsandt, um die Auslösung Coucys und Heinrichs von Bar zu arrangieren. Da die schnellste Nachrichtenverbindung nicht schneller war als ein reisender Mann, war es sicher, daß Monate vergehen würden, bis Neuigkeiten eintrafen. [Ref 431]
Da Gian Galeazzos Einfluß am osmanischen Hof bekannt war, wurde die Versöhnung mit ihm plötzlich außerordentlich wichtig. Die Botschafter, die mit Geschenken zu Bajasid reisten, wurden angewiesen, die Route über Mailand zu nehmen und Gian Galeazzo, dessen erste Frau eine Prinzessin von Frankreich gewesen war, das verspätete Recht zu übertragen, die Lilien in sein Wappen aufzunehmen. Inzwischen hatten die ersten Gesandten Venedig erreicht, von wo aus sie versuchten, mit den Gefangenen Verbindung aufzunehmen. Venedig, dessen Interesse am Handel mit der Levante es zum Bindeglied Europas mit der moslemischen Welt machte – und nebenbei auch zu einem höchstens halbherzigen Teilnehmer an der Kreuzfahrt –, diente während der gesamten Lösegeldverhandlungen als Nachrichtenzentrum, Ausgangspunkt von Reisen in die Levante und auch als Kreditgeber.
In Burgund und Flandern schwärmten die Steuereintreiber des Herzogs von Burgund aus. Kaum erholt von der Finanzierung des Kreuzzuges, mußte das Volk nun helfen, die Überlebenden auszulösen. Die traditionellen Hilfszahlungen für das Lösegeld des Herrn wurden jeder Stadt und jeder Grafschaft abverlangt, dazu kam ein Beitrag von
Weitere Kostenlose Bücher