Der ferne Spiegel
nur langsam ihre Kraft verliert und daß sich die Franzosen ungeachtet aller Tatsachen nach wie vor für unbesiegbar hielten.
Die Kreuzritter von 1396 brachen mit der strategischen Absicht auf, die Türken aus Europa zu vertreiben, aber in Wirklichkeit dachten sie an etwas anderes. Die jungen Männer aus Boucicauts Generation blickten zurück in die Vergangenheit und auf die seltsamen Lockungen von Ehre und Ruhm. Sie dachten nicht an Taktik und Erkundung, sie wollten nur in der Vorhut kämpfen – und deshalb rollten ihre Köpfe im blutgetränkten Sand zu Füßen des Sultans.
KAPITEL 27
Kleide den Himmel in Dunkel
D ie Soldaten tot, geflohen oder gefangen – die große christliche Armee existierte nicht mehr. Der Weg nach Ungarn war offen, aber die Türken hatten zu große Verluste erlitten, als daß sie die Invasion hätten wagen können. In diesem Sinne hatten die Kreuzritter nicht vergeblich gekämpft. Eine Gichtattacke, die Bajasid angeblich daran hinderte, weiterzumarschieren, animierte Gibbon zu der Aussage, daß »eine scharfe Verstimmung, die einen einzigen Nerv eines Mannes befällt, das Elend von Nationen abwenden oder aufheben kann«. In Wirklichkeit aber war nicht die Gicht, sondern die Grenze militärischer Macht der entscheidende Faktor. Der Sultan wandte sich nach Asien zurück, nachdem er Jacques de Helly zum König von Frankreich und Herzog von Burgund entsandt hatte, um die Nachricht von dem türkischen Sieg und die Lösegeldforderungen zu überbringen.
Die Leiden der Gefangenen auf dem 350-Meilen-Marsch nach Gallipoli waren groß. Nur in Hemden, meist ohne Schuhe, mit gebundenen Händen, geschlagen und gequält von ihren Bewachern, folgten sie den Siegern zu Fuß über Bergketten und hinunter in die Ebene. Für Adlige, die von Kindesbeinen an an den Pferderücken gewöhnt waren, stand die Ehrverletzung einer barfüßigen Wanderschaft den körperlichen Leiden kaum nach. In Adrianopel machte der Sultan zwei Wochen lang Station. Dann ging der Marsch über die große, leere, baumlose Ebene zum Hellespont. Die Sonne brannte, und wenn sie untergegangen war, wurde der Wind in den Oktobernächten schneidend kalt. In fremden Händen, ungeschützt und schlecht ernährt, niedergeschlagen und voller Furcht vor den Absichten des Sultans, befanden die Gefangenen sich in der wohl härtesten Lage ihres Lebens.
Coucy, der älteste der Gefangenen, niemals zuvor Unterlegener oder Gefangener – darin praktisch einmalig in seiner Zeit –, überlebte nur durch ein Wunder. Nur mit einer »kleinen Jacke« bekleidet, mit nackten Beinen und ohne Kopfbedeckung war er dicht vor dem Zusammenbruch vor Kälte und Erschöpfung. In seiner Not betete er zur Notre-Dame von Chartres. »Plötzlich erschien dort, wo vorher niemand auf der Straße, die sich weit ins flache Land streckte, gewesen war, ein Bulgare, der zu einer Völkerschaft gehörte, die uns nicht wohlgesinnt war.« Der geheimnisvolle Fremde trug ein Gewand, einen Hut und einen schweren Mantel, die er dem Sire de Coucy gab. Der legte sie an und war durch dieses Zeichen himmlischer Gunst so wiederhergestellt, daß er neue Kraft fand, den Marsch fortzusetzen. Aus Dankbarkeit sollte Coucy in seinem Letzten Willen der Kathedrale von Chartres 600 Goldflorins hinterlassen, die von Geoffrey Maupoivre, einem Arzt, der den Kreuzzug begleitete, gefangengenommen wurde und Zeuge des Wunders war, als Coucys Vollstrecker nach dessen Tod tatsächlich ausgezahlt wurden. [Ref 429]
In Gallipoli wurden die Adligen unter den Gefangenen in den oberen Räumen eines Turmes gehalten, die dreihundert anderen – unter ihnen der junge Schiltberger – in den unteren. Als das Schiff König Sigismunds dicht unter der Küste durch den Hellespont fuhr, stellten die Türken, die es auf See nicht angreifen konnten, die Gefangenen am Ufer auf und forderten den König höhnisch auf, an Land zu kommen und seine Kameraden zu befreien. Sigismund hatte tatsächlich versucht, die Kreuzritter von Konstantinopel aus freizukaufen, aber seine Mittel waren erschöpft, und der Sultan wußte, daß in Frankreich mehr zu holen war.
Nach zwei Monaten in Gallipoli wurden die Gefangenen nach Bursa, der osmanischen Hauptstadt in Asien, gebracht. Vierzig Meilen im Landesinneren und von einem Halbmond von Bergen geschützt, machte Bursa jeder Hoffnung auf Befreiung ein Ende. Alles hing von den Lösegeldzahlungen ab.
Unglaubliche Gerüchte sickerten in der ersten Dezemberwoche nach Paris. Daß der Ungläubige
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