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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
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zwingen. Die Zustimmung des Kaiserreiches war notwendig, um Druck auf Bonifatius IX. auszuüben, und dies war der Sinn der Gespräche von Reims. Aber aufgrund der Schwäche der beiden Herrscher, der eine vom Alkohol, der andere vom Wahnsinn gezeichnet, entsprach das Resultat nicht den Erwartungen. Ein erneuter Anfall der Umnachtung überschattete Karl VI. bereits, als er in Reims ankam, und in den kurzen Intervallen, in denen er bei klarem Verstand war, war Wenzel betrunken. Der Kaiser eröffnete die Verhandlungen in stumpfer Teilnahmslosigkeit, die er durch ständiges Trinken aufrechterhielt,
und stimmte vage allem zu, was vorgeschlagen wurde. Als die Vernunft Karl schließlich völlig verließ, ging die Versammlung auseinander.
    Beiden Päpsten wurde Gewalt angedroht, und beide widerstanden. Frankreich entzog Benedikt die Loyalität und belagerte sogar den päpstlichen Palast in Avignon, aber keine dieser Maßnahmen erwies sich als wirksam, und die erste verursachte so viel Unannehmlichkeiten, daß sie zurückgezogen werden mußte. Richard II. von England, der immer noch die Freundschaft Frankreichs suchte, erklärte sich bereit, Bonifatius zur Abdankung aufzufordern, womit er aber nur einen Aufruhr der Engländer heraufbeschwor, die ohnedies unter der Mißwirtschaft des Königs litten. Die Bürger von London, Parteigänger Gloucesters, nannten ihn nur noch Richard von Bordeaux (wo er geboren war) und sagten über ihn: »Sein Herz ist so französisch, daß er es nicht verbergen kann, aber eines Tages wird er für alles zahlen müssen.«
    Dann ereigneten sich in England jene »großen und schrecklichen« Dinge, die, wie Froissart schrieb, in der Geschichte seiner Zeit unerhört waren. Von einer Verschwörung gegen ihn überzeugt, ließ Richard II. Gloucester nach Calais verschleppen, wo er mit einem Tuch erdrosselt wurde, ließ Arundel hinrichten und Warwick und die Percys verbannen. Er brachte dadurch den Haß und die Furcht seiner Untertanen so gegen sich auf, daß sein Vetter Heinrich von Bolingbroke ihn 1399 absetzen konnte, ohne daß sich ein Schwert für den rechtmäßigen König erhob. Gezwungen, öffentlich auf die Krone zu verzichten, wurde Richard vom Tower in ein versteckter gelegenes Gefängnis verlegt, wo er an Vernachlässigung oder Schlimmerem starb.
    Angesichts dieser Ereignisse verließ Froissart der Mut. Die Absetzung des Königs von England schockierte ihn tief, nicht aus Liebe zu Richard II., sondern weil dieser Akt die Ordnung untergrub, die seine Welt stützte. Die etwas mehr als sechzig Jahre seines – und Coucys – Lebens, die ihm wie ein Schauspiel von unendlicher Faszination erschienen waren, kamen in tiefen Schatten an ihr Ende. Er erblickte die Hohlheit seiner Ideale und konnte sein Werk nicht fortsetzen; seine Geschichtsschreibung bricht mit dem Jahrhundertende ab.

     
    Wenn diese sechzig Jahre einigen wenigen an der Spitze der Gesellschaft voller Glanz und Abenteuer erschienen, so waren sie für die meisten eine Folge von unberechenbaren Gefahren: von den drei galoppierenden Übeln Plünderung, Pest und Steuern; von erbarmungslosen und tragischen Konflikten, bizarren Schicksalen, Hexerei, Betrug, Aufstand, Mord, Wahnsinn und dem Sturz von Fürsten; von zurückgehender Feldarbeit, von gerodetem Land, das wieder zur Wildnis wurde; und vom immer wiederkehrenden Schatten der Pestilenz, die ihre Botschaft von Sünde und Schuld und der Feindschaft Gottes unter die Menschen trug.
    Und die Menschheit wurde durch die Botschaft nicht besser. Die Gewalttätigkeit warf alle Zügel ab. Es war eine Zeit der Verantwortungslosigkeit. Verhaltensregeln wurden kraftlos, Institutionen verfielen, die Ritterschaft schützte das Volk nicht; die Kirche, weltlich geworden, führte nicht mehr zu Gott; die Städte, einst Träger des Fortschritts, waren in gegenseitige Fehden verwickelt und im Inneren in Klassenkämpfen zerrissen; die Bevölkerung, reduziert durch den Schwarzen Tod, erholte sich nicht. Der Krieg zwischen England und Frankreich und das Brigantentum, das er gebar, enthüllten die Hohlheit der militärischen Prätentionen des Rittertums und die Oberflächlichkeit seiner moralischen Ansprüche. Das Schisma erschütterte die Grundlagen der zentralen mittelalterlichen Institution und verbreitete ein tiefes und umfassendes Unbehagen. Die Menschen fühlten sich unkontrollierbaren Einflüssen unterworfen, wie Treibgut hin und her geworfen in einer Welt ohne Sinn und Richtung. Sie lebten in einer Epoche,

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