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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
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die kämpfte und litt, ohne sichtbar voranzukommen. Sie sehnten sich nach Heilung, nach einer Erneuerung des Glaubens, nach einer Stabilität und Ordnung, die niemals kam.
    Die Zeiten waren nicht statisch. Der Vertrauensschwund öffnete den Weg für die Veränderung, und das Elend, die miseria , gab diesem Impuls die Kraft. Die Unterdrückten hielten nicht länger aus, sondern rebellierten, wenn auch kaum gerüstet, eine neue Ordnung durchzusetzen. Dennoch: Veränderung fand, wie immer, statt. Wyclif und die protestantische Bewegung waren die natürliche Folge des Niedergangs der Kirche. Die Monarchie, die zentrale Regierung, der Nationalstaat gewannen an Kraft, sei es nun zum
Guten oder zum Bösen. Die Schiffahrt, durch den Kompaß befreit, war den Entdeckungsreisen nahe, die die Grenzen Europas aufbrechen und die Neue Welt finden sollten. Die Literatur von Dante bis Chaucer drückte sich in den Nationalsprachen aus, bereit für den großen Sprung, den die Buchdruckerkunst bringen sollte. Johannes Gutenberg wurde in dem Jahr geboren, als Coucy starb. Aber noch wirkten die Mißstände und die Unordnung des 14. Jahrhunderts fort. Die Zeiten sollten im Laufe der nächsten fünfzig Jahre noch schlechter werden, bis sich zu einem unmerklichen Zeitpunkt durch irgendeinen geheimnisvollen Prozeß die Energien erneuerten, Ideen aus den alten Formen des Mittelalters in neue Bereiche ausbrachen und der Menschheit eine neue Richtung gaben.

Epilog
    I nnerhalb der nächsten fünfzig Jahre liefen die Entwicklungen, denen das 14. Jahrhundert den Impuls gegeben hatte, aus, einige von ihnen in übersteigerter Form wie menschliches Fehlverhalten in hohem Alter. Nach einer erneuten schweren Epidemie im letzten Jahr des alten Jahrhunderts verschwand der Schwarze Tod, aber der Krieg und das Brigantentum erneuerten sich, der Todeskult wurde extremer, der Kampf um ein Ende des Schismas und die Reform der Kirche verzweifelter. Die Bevölkerungsdichte erreichte den niedrigsten Stand. Die Gesellschaft war physisch und moralisch tief geschwächt. In Frankreich wurde Jean de Nevers, der seinem Vater als Herzog von Burgund 1404 auf den Thron folgte, zum Mörder und löste mit seiner Tat eine Kette von Übeln aus. 1407 heuerte er eine Bande von Schlägern an, um seinen Rivalen Ludwig von Orléans in den Straßen von Paris zu ermorden. Als Ludwig nach Einbruch der Dunkelheit in sein hôtel zurückkehrte, wurde er angegriffen, die gedungenen Mörder schlugen ihm die Hand, die die Zügel hielt, ab, zogen ihn von seinem Maultier und hackten ihn mit Schwertern, Äxten und schweren Holzprügeln zu Tode, während seine berittene Eskorte, die bei solchen Gelegenheiten nie besonders nützlich gewesen zu sein scheint, entfloh.
    Durch seine herzogliche Macht vor Strafe geschützt, verteidigte Johann der Furchtlose, wie Nevers genannt wurde, seine Handlung in aller Öffentlichkeit als gerechtfertigten Tyrannenmord. Da Ludwig im Bewußtsein des Volkes mit der Verschwendung und der Leichtlebigkeit des Hofes eng verbunden war, konnte Johann von Burgund sich als Vertreter der Volksinteressen stilisieren, indem er die jüngste Steuererhebung der Regierung ablehnte. In dem Vakuum,
das der irrsinnige König hinterließ, erfüllte der Herzog die Sehnsucht des Volkes nach einem königlichen Freund und Beschützer.
    Tödlicher Haß und unstillbarer Hader zwischen den Häusern Burgund und Orléans zerfraßen Frankreich in den nächsten dreißig Jahren. Regionale und politische Gruppen sammelten sich um die Antagonisten, Brigantenkompanien, von beiden Seiten angeheuert, erschienen wieder und zogen ihre Spur von Plünderung und Mord durch das Land. Beide Seiten erhoben abwechselnd die »Oriflamme« gegeneinander, je nachdem, wer den König und die Hauptstadt kontrollierte. Die Verwaltung des Reichs fiel in Unordnung, Finanzen und das Gesetz wurden mißbraucht, Ämter verkauft und gekauft, das Parlament verwandelte sich in einen Markt der Korruption. Das Reich, erklärte ein orléanistisches Manifest, sei versunken in Sünde und Verbrechen, und Gott werde überall gelästert, »sogar von Geistlichen und Kindern«. Die Mittelklasse erhob sich in dem gleichen Versuch, korrupte Beamte zu verbannen und eine gute Regierung einzuführen, an dem Etienne Marcel vor mehr als fünfzig Jahren gescheitert war – mit dem gleichen Mißerfolg. Die orléanistische Partei unterdrückte den Aufstand und ergriff die Gelegenheit, Johann von Burgund zum Rebellen zu erklären, worauf dieser

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