Der ferne Spiegel
das Ergebnis einseitiger als das jeder anderen Schlacht seit Beginn des Krieges. In der Enge konnten die abgesessenen Ritter der französischen ersten Linie ihre gewaltigen Waffen kaum schwingen und fielen, durch den Schlamm gehindert, in hilflose Unordnung, die sich, als die zweite Linie vorrückte, in dem Gewirr von reiterlosen Pferden, in Panik und Flucht schnell in ein Chaos verwandelte. Die englischen Bogenschützen, die die Situation erkannten, warfen ihre Bogen nieder und stürzten sich mit ihren Äxten und anderen Waffen in eine Orgie des Tötens. Viele der Franzosen waren gar nicht mehr in der Lage, sich zu wehren, was die Verluste von mehreren tausend Mann erklärt, verglichen mit den fünfhundert Gefallenen auf englischer Seite.
Nach zweijähriger Pause kehrte Heinrich V. zurück, um systematisch Territorium zu erobern. Die verbesserte Technologie im Gebrauch der Artillerie hatte inzwischen die Städte ihre Immunität gekostet. Als die Ära des Schwertes endete, begann die der Feuerwaffe, ohne daß die Kriegslust des Menschen zwischen beiden
innegehalten hätte. Heinrich eroberte die ganze Normandie, während die Franzosen in innere Fehden verwickelt waren. Zwei Dauphins starben hintereinander, was den unglücklichen vierzehnjährigen Charles zum Thronerben machte, den seine eigene Mutter für illegitim erklärte. Rouen fiel unter einer erbarmungslosen Belagerung der Engländer, und nun, da Paris bedroht war, versuchten die Franzosen, gegen den Feind die eigenen Reihen zu schließen.
1419 kam ein Treffen zwischen dem Dauphin und dem Herzog von Burgund auf der Brücke von Montereau, etwa 35 Meilen südöstlich von Paris, zustande. Die beiden Parteien näherten sich einander voller Mißtrauen. Harte Worte fielen, Hände zuckten an die Schwerter, und während sich der Dauphin zurückzog, fielen seine Gefolgsleute über den Herzog her, stießen ihm die Waffen in den Körper und »warfen ihn ganz tot nieder auf die Erde«. Ludwig von Orléans war gerächt, aber zu einem bitteren Preis.
Rache gelobend, ging Philipp von Burgund, der neue Herzog, ein umfassendes Bündnis mit Heinrich V. von England ein, erkannte selbst dessen abgetragenen Anspruch auf die Krone von Philipps eigenen Vorfahren an. Zusammen entwarfen sie den Vertrag von Troyes zwischen dem König von England und der immer noch lebenden Hülle des Königs von Frankreich. Nach seinen Bedingungen, 1420 unterschrieben, verstießen der unverständige König und seine bayrische Königin, die nie französisch empfunden hatte, den »sogenannten Dauphin« und akzeptierten Heinrich V. als Thronfolger Frankreichs und Gatten ihrer Tochter Catherine.
Frankreich war an seinem tiefsten Punkt. Wenn bei Poitiers ein König gefangengenommen wurde, so wurde in Troyes das Königtum selbst aufgegeben. Das große Frankreich war zu einem englisch-burgundischen Kondominium herabgesunken. Der Fünfjahresfeldzug Heinrichs V. allein hatte dies nicht bewirkt: Es war die Folge von Kräften, die seit einhundert Jahren auseinanderstrebten, zusammen mit dem Aufstieg Burgunds als eigenständigem Staat und der langlebigen Umnachtung des Königs. Aber auf dieser Stufe in der Entwicklung des Nationalismus konnte eine Eroberung nicht mehr gelingen, so berechnend die Methoden Heinrichs V. auch waren. Es gab nun ein besetztes Frankreich und ein freies Frankreich südlich der Loire. Der elende Dauphin weigerte
sich mit dem Mut, der ihm noch zu Gebote stand, den Vertrag anzuerkennen, und zog sich mit seinem Rat nach Bourges zurück, wo er den schwachen Herzschlag seines Anspruchs auf die Krone am Leben erhielt. Nach einem königlichen Einzug in Paris kehrte Heinrich V. nach England zurück. Er ließ den Herzog von Bedford, seinen Bruder, als Regenten in Frankreich zurück. Die Geschichte – oder welcher deus ex machina auch immer das Geschick der Menschen regiert – erlaubt sich hin und wieder einen Sinn für Ironie. Wenig mehr als zwei Jahre später starben Karl VI. und Heinrich V. innerhalb eines Monats, der Schwiegersohn zuerst, so daß er niemals die französische Krone trug. Der Anspruch ging auf seinen neun Monate alten Sohn über und mit ihm, vererbt durch Catherine von Frankreich, der Fluch der Valois. Der Irrsinn sollte Heinrich VI. ereilen, als er erwachsen war; der Dauphin und spätere Karl VII. war illegitim und entging darum diesem Schicksal.
Wieder einmal hatte der Krieg das Land überzogen; in der Picardie, dem ewigen Pfad der Invasoren, lagen die Dörfer wieder in
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