Der ferne Spiegel
Lehrlinge oder Diener in einer befreundeten Familie aufgenommen wurden. Einem Herrn zu dienen wurde nicht als erniedrigend angesehen. Es war völlig normal, daß ein Page oder ein erwachsener Knappe dem Herrn beim Baden half, für seine Kleider sorgte, ihn bei Tisch bediente
und dennoch dessen adligen Status teilte. Als Gegenleistung für diese unbezahlte Arbeit kümmerte sich der Herr um die Ausbildung der Adelskinder. Sie lernten zu reiten, zu kämpfen und zu jagen, was die drei körperlichen Hauptbeschäftigungen adligen Lebens waren. Sie lernten auch, Schach und Backgammon zu spielen, zu singen, zu tanzen, zu musizieren, zu komponieren, und andere romantische Fertigkeiten. Der Burgkaplan oder ein benachbarter Abt kümmerten sich um die religiöse Erziehung der Knaben, die sie auch im Lesen und Schreiben weiterbildeten und denen sie möglicherweise darüber hinaus auch noch einen Teil der Grundschulausbildung zukommen ließen, die die nichtadligen Kinder absolvierten. Mit vierzehn oder fünfzehn, wenn sie zum Knappen ernannt wurden, intensivierte sich die Kampfschulung der Adelssöhne. Sie lernten, die schwingende Strohpuppe, die als Zielscheibe diente, mit der Lanze aufzuspießen, das Schwert zu handhaben und eine Menge anderer tödlicher Waffen zu beherrschen; sie lernten die ritterliche Heraldik kennen und die Gesetze des Zweikampfs. Als Knappe führten sie das Schlachtroß ihres Herrn und hielten es, wenn dieser zu Fuß kämpfte. Sie halfen dem Seneschall bei seiner Arbeit, verwahrten die Schlüssel, führten vertrauliche Kurierdienste aus und beaufsichtigten das Geld und andere Wertgegenstände auf Reisen. Für Buchwissen blieb in diesem Programm wenig Zeit, obwohl ein junger Adliger je nach Neigung Bekanntschaft mit ein wenig Geometrie, Jurisprudenz, Rhetorik und in einigen Fällen auch Latein machen konnte.
Frauen von adligem Stand genossen gewöhnlich eine bessere Schulbildung als die Männer, denn obwohl die Mädchen nicht wie die Knaben im Alter von sieben Jahren das elterliche Haus verließen, wurde ihre Unterrichtung von der Kirche ermutigt, damit sie in Glaubensdingen vorbereitet waren, falls die Eltern sie – mit angemessener Mitgift – in ein Nonnenkloster schickten. Neben dem Lesen und Schreiben des Französischen und Lateinischen wurden sie in der Kunst des Musizierens, in der Astronomie und in den Grundbegriffen der Medizin und der Ersten Hilfe unterwiesen.
Der Letzte der Coucys erblickte das Licht einer Welt, in der die Bewegung noch durch die Geschwindigkeit von Mensch oder Pferd bestimmt war, in der Nachrichten und öffentliche Verlautbarungen durch die menschliche Stimme verbreitet wurden und in der für die meisten Menschen das Licht des Tages mit der untergehenden Sonne endete. Mit der Abenddämmerung wurden Hörner geblasen oder Glocken geläutet, die den Zapfenstreich oder das »Feuer aus!« verkündeten. Danach war die Weiterarbeit verboten, da die Handwerker bei dem schlechten Licht nicht mehr zuverlässig arbeiten konnten. Die Reichen konnten den Tag durch Fackeln oder Kerzen verlängern, aber für die anderen war die Nacht so dunkel, wie die Natur sie machte, und Stille umgab einen Reisenden bei Nacht. »Vögel, wilde Tiere [Ref 45] und Menschen legten sich still zur Ruhe«, schrieb Boccaccio. »Die ungefallenen Blätter ruhten in den Bäumen, und die feuchte Luft stand in mildem Frieden. Nur die Sterne leuchteten, den Weg zu erhellen.«
Blumen bedeckten die Felder und den Boden des Waldes und waren ein geliebtes Element des täglichen Lebens. Wilde Blumen und Gartenblumen wurden in die Hauben der Adligen und ihrer Frauen geflochten, bei Festmählern auf den Boden und die Tische gestreut, auf die Straße, wenn der König kam. Affen waren verbreitete Schoßtiere. Bettler waren überall: die meisten blind, verkrüppelt, krank oder verwachsen, oder sie gaben sich den Anschein, es zu sein. Die Beinlosen schleppten sich mit Hilfe von Holzblöcken fort, die an ihre Hände gebunden waren. Frauen wurden als Versuchung des Teufels angesehen, während gleichzeitig der Marienkult eine Frau zum zentralen Gegenstand von Liebe und Verehrung machte. Doktoren wurden bewundert und Rechtsanwälte in aller Regel gehaßt und gemieden. Der Dampf war noch nicht nutzbar gemacht, die Syphilis noch nicht eingeschleppt, die Lepra existierte noch, und das Schießpulver wurde in seiner frühen Form genutzt, wenn auch noch ohne militärische Wirkung. Kartoffeln, Tee, Kaffee und Tabak waren unbekannt, heißer
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