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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
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man Fettflecken mit Hühnerfedern entfernt, die vorher in heißes Wasser getunkt worden sind. Die Ehefrauen konnten nachlesen, wie sie ihren Gemahl mit einem
rauchlosen Feuer im Winter und einem flohfreien Bett im Sommer beglücken konnten. Junge, unverheiratete Frauen wurden beraten, wie zu fasten und Almosen zu geben ist, daß man beim Klang der Morgenglocke das Morgengebet spricht und sich dann erst wieder hinlegt. Ihnen wurde gesagt, wie man mit Würde und Bescheidenheit in der Öffentlichkeit aufzutreten hat, ohne »mit unruhigen Blicken und nach vorne gestrecktem Kopf wie ein fliehender Hirsch nach allen Seiten zu schauen, als ob sie ein entflohenes Pferd suchen würden«. Frauen konnten sich über Gutsverwaltung, Haushaltsführung, sogar über die Verteidigungsmöglichkeiten bei einer Belagerung und über die Feudalgesetze aufklären lassen, damit sie den Besitz gut verwalteten, wenn der Mann im Krieg war.
    Aber so sehr sie auch suchen mochten, sie fanden nur wenige Bücher, in denen stand, wie man Kinder stillt, wickelt, badet, entwöhnt, ernährt und pflegt, und das, obwohl diese Fragen für die Erhaltung der Art sicher wichtiger waren als das Wissen darum, wie man Ziervögel züchtet oder Ehemänner verwöhnt. Wenn das Stillen überhaupt einmal erwähnt wurde, hielt man es meistenteils für empfehlenswert, so Bartholomäus von England, [Ref 43] ein Enzyklopädist des 13. Jahrhunderts, in seinem Buch Von der Natur der Dinge wegen des Gefühlswertes. Während des Stillens »liebt die Mutter ihr Kind sehr zärtlich, sie umarmt und küßt es, pflegt es und kümmert sich sehr besorgt um es«. Aldobrandino, ein zeitgenössischer Arzt, der in Frankreich praktizierte, empfahl häufiges Baden und Umziehen, tägliches Waschen und eine Entwöhnung mit Brei, der aus Brot, Milch und Honig gemacht werden sollte. Er trat für genügende Freizeit ein und für eine gewaltfreie Schulerziehung mit ausreichender Zeit für Schlaf und Zerstreuung. Wie weit aber diese humanen Methoden verwirklicht worden sind, können wir nicht sagen.
    Im großen und ganzen scheinen die Kinder in den ersten fünf oder sechs Jahren ohne große Fürsorge sich selbst überlassen worden zu sein; entweder sie starben, oder sie überlebten. Welche psychologischen Auswirkungen das auf den Charakter der Menschen und möglicherweise auf die Geschichte hatte, kann man nur ahnen. Vielleicht erklärt die emotionale Kahlheit einer mittelalterlichen
Kindheit die Gefühllosigkeit des mittelalterlichen Menschen dem Leben und dem Leiden anderer gegenüber.
    Dennoch: es gab Spielsachen für die Kinder. Sie hatten Puppen und Puppenkutschen, vor die Mäuse gespannt wurden, sie hatten Holzritter und Waffen, kleine Tiere aus gebranntem Ton, Windmühlen, Bälle, Federballschläger und Federbälle, Stelzen, Wippen und Karussells. Kleine Jungen waren wie kleine Jungen zu allen Zeiten, »sie lebten gedankenlos und ohne Sorgen«, so hat es uns wenigstens Bartholomäus von England überliefert. »Sie wollten nur spielen, fürchteten keine Gefahr mehr als die Prügel, waren immer hungrig und aßen so viel, daß ihnen übel wurde. Sie wollten alles, was sie sahen, weinten genauso schnell, wie sie lachten, widersetzten sich ihren Müttern, wenn sie gewaschen oder gekämmt werden sollten, und konnten kaum so schnell gewaschen werden, wie sie sich schmutzig machten.« Mädchen benahmen sich laut Bartholomäus besser und wurden von ihren Müttern mehr geliebt. Wenn die Kinder erst einmal sieben Jahre alt geworden waren, begann man sie zu beachten, und sie fingen an, das Leben kleiner Erwachsener zu führen. Das Kindische, das im Verhalten des mittelalterlichen Menschen in seiner Impulsivität, seiner mangelnden Selbstkontrolle so deutlich war, mag einfach dadurch zu erklären sein, daß ein so großer Teil der mittelalterlichen Gesellschaft wirklich sehr jung war. Man nimmt an, daß etwa die Hälfte der Bevölkerung [Ref 44] unter einundzwanzig war und vielleicht ein Drittel unter vierzehn.
    Ein Junge adliger Abkunft blieb etwa bis zu seinem siebten Lebensjahr in der Obhut der Frauen, die ihm Benehmen beibrachten und ihn lesen und schreiben lehrten. Bezeichnenderweise wurde die heilige Anna, die Schutzpatronin der Mütter, gewöhnlich dargestellt, wie sie ihrem Kind, der Jungfrau Maria, beibringt, aus einem Buch zu lesen. Im Alter zwischen acht und vierzehn Jahren wurden die Jungen als Pagen auf die Burg eines benachbarten Ritters geschickt, so wie die Söhne der Gemeinen als

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