Der ferne Spiegel
Kind kämmt oder entlaust, während sein Kopf in ihrem Schoß liegt. Eine elegante Mutter des 14. Jahrhunderts ist abgebildet worden, die ihrem Kind auf vier Nadeln ein Leibchen strickt, ein Hinweis auf die »Schönheit der Kindheit« ist aus einer Heiligenvita erhalten, und in der Ancren Riwle des 12. Jahrhunderts können wir über eine Bauernmutter lesen, die mit ihrem Kind Verstecken spielt und die, als das Kind weinend nach ihr rief, »mit ausgestreckten Armen auf es zusprang, es umarmte und küßte und ihm die Tränen trocknete«. Diese wenigen Einzelfälle machen aber den Mangel nur noch deutlicher.
Mittelalterliche Abbildungen zeigen Gestalten in jeder anderen menschlichen Verrichtung – in der Liebe und im Sterben, schlafend und essend, im Bett und im Bad, betend, jagend, tanzend, pflügend, spielend, handelnd, reisend, lesend und schreibend –, aber so selten zusammen mit Kindern, daß sich die Frage: warum nicht? geradezu aufdrängt. Man glaubt, daß die Mutterliebe wie der Geschlechtstrieb so tief im Wesen des Menschen verwurzelt ist, daß sie geschichtlichen Schwankungen nicht unterworfen ist. Aber vielleicht war sie unter den ungünstigen Bedingungen jener Zeit doch stark herabgesetzt. Vielleicht hat es an der hohen Kindersterblichkeit gelegen (eins oder zwei von drei Kindern starben), daß die Liebesmühen um ein Kind so wenig lohnend erschienen. Vielleicht haben aber auch die häufigen Schwangerschaften zu der Interesselosigkeit beigetragen. Ein Kind starb, ein neues wurde geboren und nahm seinen Platz ein. [Ref 41]
Begüterte Adels- und Bürgerfamilien hatten mehr Kinder als die Armen, da sie jung heirateten und ihre Frauen nur kurze Zeit unfruchtbar waren, weil sie Ammen beschäftigten. Sie brachten auch mehr durch, manchmal erreichten sechs bis zehn Kinder das Erwachsenenalter. Guillaume de Coucy, der Großvater Enguerrands VII., zog fünf Söhne und fünf Töchter groß. Sein Sohn Raoul hatte acht Kinder, die überlebten. Neun von zwölf Kindern, die Königin Philippa Eduard III. von England geschenkt hatte, überstanden die schwierigen frühen Jahre. Es ist geschätzt worden, daß die Durchschnittsfrau von zwanzig zwölf fruchtbare Jahre vor sich hatte, in denen sie mit einem durchschnittlichen Abstand von dreißig
Monaten jeweils eine Lebendgeburt erwarten konnte. Die Abstände sind deshalb so groß, weil in den Zwischenzeiten mit Totgeburten, Fehlgeburten und Stillzeiten zu rechnen war. Ausgehend von diesen Zahlen kann man etwa fünf Lebendgeburten pro Familie annehmen, von denen insgesamt die Hälfte überlebte.
Wie alles andere läßt sich Kindheit nicht verallgemeinern. Liebe und Zärtlichkeit und Wärme gab es auch damals. Philipp von Navarra schrieb im 13. Jahrhundert, daß Gott in seiner Gnade den Kindern drei Gaben gegeben habe. Erstens die Person, die sie an ihrer Brust genährt hat, zu erkennen und zu lieben, zweitens »denen, die mit ihnen spielen, Freude und Liebe entgegenzubringen«, und drittens Liebe und Zärtlichkeit bei denen zu erwecken, die sie erziehen, wovon das letzte das wichtigste ist, denn »ohne dies sind sie schmutzig und lästig in ihrer Kindheit und so launisch und ungezogen, daß es sich kaum lohnt, sie aufzuziehen«. Philipp war ganz für eine strenge Erziehung, denn »wenige Kinder sterben an zu großer Strenge, viele aber daran, daß ihnen zuviel erlaubt war«. [Ref 42]
Bücher über Kindererziehung gab es kaum. Es gab Bücher – das heißt gebundene Manuskripte – über höfische Etikette, Haushaltsführung, Benimmregeln, Hausmittel und fremde Sprachen. Der Leser wurde darüber belehrt, wie er seine Hände waschen und seine Fingernägel vor dem Essen säubern sollte, man konnte erfahren, daß man bei Mundgeruch Fenchel und Anis essen sollte, daß man nicht auf den Boden spucken, bei Tisch nicht mit dem Messer in den Zähnen stochern durfte und weder Hände noch Nase am Tischtuch abzuwischen hatte. Eine Frau konnte lernen, wie man Tinte, Rattengift oder Sand für ein Uhrglas macht oder wie man Gewürzwein ansetzt, das bevorzugte Getränk des Mittelalters. Man konnte Ratschläge über die Aufzucht von Ziervögeln finden und wie man sie zum Brüten bringt, wie man sich Empfehlungsschreiben über Dienstboten besorgt und sich davon überzeugen kann, daß sie die Kerze auf ihrem Zimmer ausdrücken oder ausblasen und nicht mit ihrem Hemd auslöschen. Man wurde informiert, wie man Erbsen zieht und Rosen züchtet, wie man das Haus fliegenfrei halten kann und wie
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