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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
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Depressionen und Angst wurden als Krankheiten erkannt, obwohl die Kirche darauf bestand, daß die Symptome der Depression, Niedergeschlagenheit, Verzweiflung, Melancholie und Lethargie, göttliche Strafen für die Sünde der »accidia«, des Müßiggangs, waren. Die Landvermessung mit Hilfe der Trigonometrie kam auf, und auch die Höhenmessung
mit einfachen Peilverfahren wurde entwickelt. Seit der Jahrhundertwende waren Brillen verbreitet, die den Menschen auch im Alter noch das Lesen erlaubten und die Schaffenszeit der Wissenschaftler um vieles verlängerten. Die aufkommende Papierproduktion bot ein Material an, das billiger als Pergament und in größeren Mengen zu haben war, wodurch literarische Arbeiten leichter kopiert und weiter verbreitet werden konnten.
    Die einzigen Energiequellen waren die menschliche Kraft und die Zugtiere, daneben gab es nur noch die Antriebswellen, die von Wind- und Wasserkraft in Bewegung gehalten wurden. Sie betrieben Mühlen in Gerbereien und Wäschereien, Sägewerken, Ölpressen und in Eisengießereien; Mühlsteine zerkleinerten das Malz in Bierbrauereien und mischten den Papierbrei; sie wurden bei der Farbmischung eingesetzt und an Walkmaschinen angeschlossen, die bei der Fertigstellung von Tüchern und Stoffen vonnöten waren, sie versorgten die Blasebälge der Essen mit Luft, setzten die Hammerwerke der Gießereien in Gang und ließen die Schleifsteine der Waffenschmiede kreisen. Diese Mühlen hatten die Eisenwerkzeuge derartig vermehrt, daß man schon Waldland abzuholzen begann, um die Schmiedeherde mit Brennholz zu versorgen. Sie hatten die menschlichen Möglichkeiten derartig erweitert, daß Papst Zölestin III. in den neunziger Jahren des 12. Jahrhunderts entschied, daß die Windmühlen den Zehnten zu entrichten hatten. Außerdem hatten die mit Menschenkraft arbeitenden Maschinen wie die Töpferscheibe, die Bohrleier, das Spinnrad und der Räderpflug die Produktionsmöglichkeiten erstaunlich in die Höhe schnellen lassen. [Ref 49]
    Das Reisen, »die Mutter der Erfahrung«, brachte die Neuigkeiten der Welt in die Burgen und Dörfer, die Städte und die ländlichen Gebiete. Die zerfurchten Straßen, die immer entweder zu staubig oder zu schlammig waren, trugen einen endlosen Strom von Pilgern und Hausierern, von Kaufleuten samt Tragtierkolonnen, Bürgern und reisenden Bischöfen, Steuereintreibern, reisenden Gelehrten, Jongleuren und Predigern ebenso wie Boten und Kurieren, die die Städte in einem Kommunikationsnetz miteinander verbanden. Mächtige Adelsherren wie die Coucys oder Bankiers, Prälaten, Äbte, Gerichtsherren, Könige und ihre Ratgeber
hatten ihre eigenen Boten. Um die Mitte des Jahrhunderts beschäftigte der englische König zwölf Boten, die ihm ständig zur Verfügung standen und ihn auf allen seinen Reisen begleiteten. Der größeren Majestät Frankreichs entsprechend hielt sich der französische König ungefähr hundert Meldeboten, ein durchschnittlicher Feudalherr zwei oder drei.
    Eine durchschnittliche Tagesreise zu Pferd bedeutete fünfzig oder sechzig Kilometer, was aber vom Zustand des Reiseweges abhing. Für eine Reise quer durch Frankreich von Flandern nach Navarra brauchte man etwa zwanzig bis zweiundzwanzig Tage, die Ost-West-Durchquerung von der Küste der Bretagne bis nach Lyon an der Rhone wurde mit sechzehn Tagereisen angesetzt. [Ref 50]
    Italienreisende nahmen meistens den Weg über den Paß Mt. Cenis, der von Chambéry in Savoyen nach Turin führte. Da der Paß aber von November bis Mai verschneit war, bedeutete das, fünf bis sieben Tagereisen für die Alpenüberquerung einzuplanen. Um auf dieser Strecke von Paris nach Neapel zu reisen, brauchte man fünf Wochen. Eine Reise von London nach Lyon dauerte achtzehn Tage, von Canterbury nach Rom etwa dreißig Tage. Das hing nicht zuletzt mit der Kanalüberquerung zusammen, die immer unberechenbar, oft gefährlich und manchmal tödlich war. Sie konnte zwischen drei und dreißig Tagen beanspruchen. Von dem Ritter Sir Hervé de Léon ist überliefert, daß er fünfzehn Tage von einem Sturm auf See festgehalten wurde und nicht nur sein Pferd verlor, sondern auch so zerschlagen und geschwächt wieder das Land erreichte, daß »er nie wieder richtig gesund wurde«.
    Obwohl die Takelage verbessert worden war und das neue, freibewegliche Ruder bessere Manövrierfähigkeiten bot, waren die Schiffe, von großen Galeeren mit vielen Ruderern einmal abgesehen, den Launen des Wetters ausgeliefert. Da andererseits

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