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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
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Gewürzwein das Lieblingsgetränk derer, die es sich leisten konnten; die anderen tranken Bier, Ale oder Apfelmost.
    Die Männer außer den Geistlichen hatten den Rock abgelegt und sich für enganliegende Hosenbeine entschieden; in der Regel
waren sie rasiert, wenn auch Kinn- und Schnauzbärte mit der Mode kamen und gingen. Ritter und Höflinge hatten eine Mode langer, spitzer Schuhe angenommen, die man »poulaines« nannte und die oft an die Wade gebunden werden mußten, damit ihr Träger in ihnen gehen konnte. Dazu trug man sehr kurze Hemdjakken, die nach der Klage eines Chronisten das Gesäß nicht verhüllten [Ref 46] und auch »andere Körperteile, die versteckt sein sollten«, was den Spott des Volkes erregte. Die Frauen benutzten Kosmetika, färbten sich die Haare und zupften sie aus, um die Stirn zu erhöhen. Sie zupften auch ihre Augenbrauen aus, obwohl sie sich mit diesen Eingriffen der Sünde der Eitelkeit schuldig machten.
    Das Schicksalsrad, das die Mächtigen niederwarf und (seltener) die Armen emportrug, war das herrschende Symbol einer unsicheren Zeit. Moralischer oder materieller Fortschritt des Menschen oder der Gesellschaft war etwas, womit man in diesem vorbestimmten Erdenleben nicht rechnete. Der Einzelne mochte sich zwar durch eigene Anstrengung Tugenden aneignen, aber ein grundsätzlicher Fortschritt würde, so meinte man, erst bei der Wiederkehr Christi und dem Anbruch eines neuen Zeitalters eintreten.
    Die Tageszeit, der Jahreskalender und die Geschichte wurden entsprechend den kirchlichen Festtagen berechnet. Die Erschaffung der Welt wurde auf das Jahr 4484 vor der Gründung Roms datiert, und die moderne Geschichte begann mit der Geburt des Herrn. Geschichtliche Ereignisse wurden seitdem entsprechend päpstlicher Regierungszeiten bestimmt, beginnend mit der Regentschaft des heiligen Petrus, die auf die Jahre 42 – 67 nach Christi Geburt gelegt wurde. Das kirchliche Jahr begann im März, dem Monat, wie Chaucer sagte, »in dem die Welt begann, als Gott erschuf den Mann«. Offiziell begann das Jahr Ostern, da das aber ein bewegliches Fest war, fiel der Jahresbeginn in eine Zeitspanne von dreißig Tagen, und die historische Überlieferung wurde ungenau. Die Stunden des Tages wurden nach den vorgeschriebenen Gebeten benannt. Die Morgenliturgie lag um Mitternacht, die Laudes, ein Lobgebet, verrichtete man um drei Uhr morgens, die Primes begrüßten den neuen Tag im ersten Morgenlicht ungefähr um sechs Uhr, Vespergebete fanden gegen achtzehn Uhr statt und die
Komplet zur Schlafenszeit. Die Berechnung der Zeit richtete sich nach dem Lauf der Sonne und der Sterne, den natürlichen Zeitmessern, die jedermann kannte und sorgfältig beobachtete. Als Enguerrand VII. geboren wurde, kam gerade die mechanische Uhr auf, die zuerst auf den Kirchtürmen installiert wurde und in den Häusern der Reichen zu finden war. Sie brachte die Präzision, die wissenschaftliche Untersuchungen möglich machen sollte.
    Ansonsten lebten die Menschen in enger Nachbarschaft mit dem Unerklärlichen. Die flackernden Lichter des Sumpfgases konnten nur Feen oder Elfen sein. Leuchtkäfer waren die Seelen ungetauft verstorbener Kinder. In den Erschütterungen und Erdrissen, die ein Erdbeben mit sich brachte, waren übernatürliche Kräfte genauso am Werk wie in den Blitzen, die Bäume entzündeten. Stürme waren Vorzeichen, Tod durch Herz- oder Schlaganfall war das Werk böser Geister. Die Magie war ein immer präsentes Element dieser Welt. Geister, Kobolde, Gnomen und Feen berührten und formten das Leben der Menschen. Heidnischer Aberglaube und heidnische Riten waren unter dem Landvolk genauso verbreitet wie die kirchlichen Sakramente. Der Einfluß der Planeten vermochte zu erklären, was ansonsten rätselhaft blieb. Die Astronomie war die Königin der Wissenschaften und die Gestirne nach Gott die größten Lenker aller Dinge. [Ref 48]
    Die Alchimie, die Suche nach dem Stein der Weisen, der unedle Metalle zu Gold zu machen versprach, war die beliebteste angewandte Wissenschaft der Zeit. Am Ende des Regenbogens lag das Allheilmittel für Krankheiten ebenso wie ein Lebenselixier. Wissensdurstige Geister trieben mit Beobachtungen und Experimenten die Naturwissenschaften voran. Ein Wissenschaftler aus Oxford führte sieben Jahre lang (von 1337 bis 1344) Wetterbeobachtungen durch und entdeckte, daß man ein herannahendes Regenwetter daran erkennen konnte, daß die Kirchenglocken auf eine weitere Entfernung zu hören waren.

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