Der ferne Spiegel
seiner Tochter eine Aussteuer von 40 000 Pfund, und König Ludwig vermachte ihr und ihren Kindern eine jährliche Zuwendung von 2000 Pfund. Enguerrand schenkte er 10 000 Pfund und versprach ihm weitere 10 000, um ihn von seinen Schulden zu befreien. Enguerrand seinerseits
versprach, 6000 Pfund auf seine Frau zu überschreiben, und, worauf es dem König im Grunde ankam, seine und seiner Vasallen Gefolgschaft in der Verteidigung des Reiches gegen Eduard von England.
Zu Beginn schien der Krieg keine ernsthafte Kraftprobe zwischen England und Frankreich zu werden, da Frankreich die führende Macht in Europa war, deren militärischer Ruhm in seinen eigenen Augen und auch nach Ansicht anderer Länder den Englands bei weitem übertraf. Außerdem war Frankreich mit seinen 21 Millionen Menschen fünfmal so bevölkerungsstark wie England mit seinen wenig mehr als vier Millionen Menschen. Dennoch, der Besitz von Aquitanien und das Bündnis mit Flandern gaben Eduard zwei Brückenköpfe an den Grenzen Frankreichs, die seiner dreisten Herausforderung an »Philipp von Valois, der sich König von Frankreich nennt!«, mehr als nur verbalen Nachdruck verliehen. Keiner der beiden Gegner konnte wissen, daß sie in einen Krieg zogen, der sie beide überleben sollte, der ein Eigenleben entwickeln würde, der Verhandlungen, Waffenstillständen und Verträgen trotzen und sich noch in das Leben ihrer Söhne schleppen sollte, in das Leben ihrer Enkel und Großenkel, ja bis in das der Nachkommen der fünften Generation, ein Konflikt, der beide Seiten an den Rand der Zerstörung bringen und sich auf ganz Europa ausdehnen sollte: der Hundertjährige Krieg, die letzte große Plage des ausgehenden Mittelalters.
Enguerrand VI. hatte gerade noch Zeit, ein Kind zu zeugen, da er 1339 schon zum Kriegsdienst gerufen wurde. Im Norden rückten die Engländer von Flandern her vor und belagerten mit einer Abteilung von 1500 Reisigen die Burg von Oisy, die den Coucys gehörte. Enguerrands Vasall in Oisy aber verteidigte sich so grimmig, daß sich die Engländer zurückziehen mußten, obwohl ihr Anführer Sir John Chandos war, der sich als der fähigste militärische Führer auf englischer Seite erweisen sollte. Als Rache für diese Niederlage brannte er daraufhin drei andere Städte und kleinere Burgen nieder, die im Machtbereich der Coucys lagen. In der Zwischenzeit hatte sich Enguerrand mit den königlichen Verbänden vereinigt, die zur Verteidigung von Tournai an der flämischen
Grenze standen, und 1340, während sich der ziemlich energielose Feldzug in die Länge zog, wurde sein Sohn geboren, der siebente Enguerrand und der letzte.
KAPITEL 3
Jugend und Rittertum
O bwohl er seinen Eltern als erstgeborener Sohn und Erbe zweifellos kostbar war, wurde Enguerrand VII. in seiner Kindheit sicher nicht die Liebe und Zärtlichkeit zuteil, die wir heute bei der Fürsorge für ein Baby voraussetzen. Von allen Eigenheiten, in denen sich das Mittelalter von der heutigen Zeit unterscheidet, ist keine so auffallend wie das fehlende Interesse an Kindern. In künstlerischen, literarischen und dokumentarischen Überlieferungen ist kaum einmal von Kinderliebe die Rede. Das Christuskind ist natürlich häufig abgebildet worden, gewöhnlich in den Armen seiner Mutter, aber bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts hält sie es im allgemeinen sehr steif von ihrem Körper weg und wirkt selbst dann distanziert, wenn sie es stillt. Ansonsten liegt der Gottessohn alleine auf dem Boden, entweder gewickelt oder einfach nackt und unbedeckt, und eine ernste Mutter schaut geistesabwesend auf ihn herab. Ihre Trennung von dem Kind sollte dessen Göttlichkeit andeuten. Wenn die Mutter des Mittelalters wärmere, innigere Gefühle für ihr Kind besaß, so wurde das jedenfalls kaum in der Kunst ausgedrückt, denn die Darstellung der Mutterschaft war künstlerisch besetzt durch die Jungfrau Maria.
In der Literatur war die Hauptrolle der Kinder, zu sterben, meist zu ertrinken, zu ersticken oder auf Geheiß eines abergläubischen Königs im Wald ausgesetzt zu werden. Frauen wurden selten als Mütter dargestellt. Sie erscheinen in den Volksstücken als leichtsinnig und lüstern, als Heilige und Märtyrerinnen in den Dramen oder als die unerreichbaren Gestalten der leidenschaftlichen, unerlaubten Liebe der Romanzen. Nur in ganz wenigen Fällen taucht die Mutterliebe als Thema auf, wie auf einem Steinrelief, das Eltern
darstellt, wie sie ihr Kind laufen lehren, oder eine Bauernmutter, die ihr
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