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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
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aber Seekarten und Hafenverzeichnisse bekannt waren und der Kompaß auch Navigation auf offener See erlaubte, begann man, größere Schiffe zu bauen. Diese konnten über 500 Tonnen Fracht aufnehmen und es riskieren, den Ozean zu überqueren. Transporte großer Warenmengen waren mit flachen Schiffen auf Flüssen und Kanälen weitaus billiger zu bewerkstelligen als mit den schwerfälligen Packtierkolonnen, auch wenn der jeweilige Landesherr an jeder
erdenklichen Stelle Zölle erhob. Auf den vielbefahrenen Flüssen Seine und Garonne gab es etwa alle zehn oder zwölf Kilometer eine Zollstelle.
    Frachtwagen und zweirädrige Bauernkarren wurden nur für kurze Transportwege benutzt, da die vorhandenen Straßen im Winter für Fahrzeuge aller Art unpassierbar waren und es kein zufriedenstellendes Verbundsystem von Wegen, Straßen und Brükken gab. Aus diesen Gründen blieben die Maultierkarawanen das bevorzugte Transportmittel der Zeit. Vierrädrige Planwagen, die von drei oder vier Pferden gezogen wurden, blieben den Damen oder Kranken vorbehalten. Frauen saßen damals noch in weiten Röcken rittlings zu Pferde, aber noch vor der Jahrhundertwende begann der Damensattel sich durchzusetzen. Für einen Ritter war es undenkbar, in einem Wagen zu fahren, es verstieß gegen die Prinzipien der Ritterlichkeit, genauso, wie er unter keinen Umständen eine Stute ritt.
    Mit Einbruch der Nacht beendete man seine Tagereise, und die Adligen unter den Reisenden nahmen in einem nahe gelegenen Kloster oder in einer Burg Zuflucht, wo man sie gerne begrüßte, die gewöhnlichen Fußreisenden samt Pilgern wurden in einem vor dem Tor gelegenen Gästehaus untergebracht und verpflegt. Sie waren zu einer einmaligen Übernachtung in jedem Kloster berechtigt und konnten nur dann abgewiesen werden, wenn sie um eine zweite Übernachtung baten. Es gab Gasthäuser für Händler und andere Reisende, aber meistens waren sie überfüllt, verkommen und voller Flöhe; in jedem Raum standen mehrere Betten, und jeweils zwei Reisende lagen in einem Bett, drei gar in Deutschland, wie der Dichter Deschamps [Ref 51] angewidert berichtete, der im Auftrag des französischen Königs dorthin reiste. Weiterhin beschwerte er sich, daß weder Bett- noch Tischtücher frisch waren, der Gastwirt keine Auswahl an Speisen anbot und man im ganzen Reich nichts anderes als Bier trinken konnte. Flöhe, Ratten und Mäuse waren überall, und die Bewohner von Böhmen lebten wie die Schweine – so Deschamps.
    Trotz all dieser Widerwärtigkeiten und Strapazen, trotz des enormen Zeitaufwandes reisten die Leute erstaunlich viel – von Paris nach Florenz, von Flandern nach Ungarn, von London nach
Prag, von Böhmen nach Kastilien; sie überquerten Meere, Berge und Flüsse, sie zogen nach China wie Marco Polo oder dreimal nach Jerusalem wie Chaucers Wife of Bath.
     
    Worin bestand das geistige Rüstzeug der Adelsschicht, aus der Enguerrand stammte? Lange vor Kolumbus wußten sie, daß die Erde eine Kugel ist. Dieses Wissen war auf die Beschäftigung mit den Bahnen der Sterne zurückzuführen, die nur verständlich wurden, wenn man diese Annahme zugrunde legte. Der Geistliche Gautier de Metz sagte in seiner Image du Monde (Der Weltkreis) in einem anschaulichen Bild, daß der Mensch um die Erde wandern könne wie eine Fliege um einen Apfel. Ihm zufolge war die Erde so weit von den Sternen entfernt, daß ein Stein, der von dorther fiele, mehr als hundert Jahre brauchen würde, um auf der Erde anzukommen. [Ref 52]
    Bildlich stellten sich die Menschen jener Zeit das Universum in den Armen Gottes dar und setzten den Menschen in sein Zentrum. Es war bekannt, daß der Mond ein Trabant der Erde war, daß er keine eigene Lichtstrahlung besaß und daß die Sonnenfinsternis dadurch entstand, daß der Mond sich zwischen Erde und Sonne schob. Man wußte, daß Regen von der Erde stammende Feuchtigkeit war, die durch Verdunstung aufstieg, sich zu Wolken verdichtete und als Niederschlag auf die Erde zurückkehrte, und auch, daß der Zeitabstand zwischen Donner und Blitz etwas über die Entfernung des Gewitters aussagte.
    Ferne Länder wie Indien und Persien wurden durch einen Nebelschleier aus Märchen gesehen, die nur manchmal ein Körnchen Wahrheit enthielten. Man erfuhr von Wäldern, die so hoch waren, daß sie den Himmel berührten, man hörte von gehörnten Zwergenmenschen, die in Herden lebten und in sieben Jahren erwachsen waren, von Brahmanen, die sich selbst verbrannten, von Menschen mit

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