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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
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das Große Sterben bekannt. Gerüchte, die aus Asien nach Europa drangen, erzählten von schrecklichen Wirbelstürmen und »Feuerwänden«, die von Hagelstürmen begleitet wurden, »in denen fast jedermann erschlagen wurde«. Auch von »Feuerregen« war die Rede, die Menschen, Tiere, Steine, Bäume, Dörfer und Städte verbrannten. In einer anderen Version
ist von einem »faul riechenden Wind« die Rede, der die Krankheit nach Europa trug und jetzt, »wie einige vermuten, von der Küste herbläst«. Den Beobachtern der damaligen Zeit war der geistige Sprung von diesen Geschichten zu den Schiffen und den Ratten nicht möglich, da keinerlei Vorstellung von der Tier- oder Insektenübertragung existierte.
    Das Erdbeben wurde für den Auslöser der Katastrophe gehalten, weil es schweflige und faul riechende Dämpfe des Erdinnern freigesetzt hatte. Es wurde auch als Hinweis auf einen titanischen Kampf der Planeten aufgefaßt, der die Wasser ansteigen und verdunsten ließ, bis die Fische in Massen starben und die Luft vergifteten. Alle diese Erklärungsversuche hatten den Faktor der vergifteten Luft gemein, der Nebel und giftigen Dämpfe, die auf natürliche oder vorgestellte Ursachen wie abgestandene Seen, unheilvolle Planetenkonstellationen, die Hand des Bösen oder den Zorn Gottes zurückgeführt wurden. Das mittelalterliche Denken blieb in der Theorie astraler Einflüsse befangen, betonte die Rolle der Luft in der Verbreitung der Seuche und übersah mangelnde Hygiene oder tierische Krankheitsträger. Die Existenz zweier Übertragungsformen verwischte die Spur, dies um so mehr, als der Floh bis zu einem Monat unabhängig von der Ratte leben konnte und, wenn er infiziertes Blut eines Menschen aufnahm, die Krankheit weitertrug, ohne sich erneut bei der Ratte zu infizieren. Da gleichzeitig die andere Form der Seuche auftrat, die die Atemwege befiel und tatsächlich durch die Luft verbreitet wurde, wurde das Rätsel noch verwirrender. [Ref 93]
    Im Oktober 1348 bat Philipp VI. die medizinische Fakultät der Universität von Paris um einen Bericht über das Unheil, das das Überleben der menschlichen Rasse zu bedrohen schien. Mit gründlicher These, Antithese und Beweisführung machten die Ärzte eine Dreierkonstellation aus Saturn, Jupiter und Mars verantwortlich, die am 20. März 1345 in einen 40-Grad-Winkel zu Aquarius getreten sei. Zudem, so erklärten sie, sei aber auch mit Momenten zu rechnen, »deren Ursachen selbst den feinsten Geistern verborgen blieben«. Das Urteil der Pariser Gelehrten wurde als offizielle Begründung für die Seuche anerkannt. Sie wurde zitiert, von Schreibern abgeschrieben, ins Ausland getragen, aus dem Lateinischen
in viele Landessprachen übersetzt und galt sogar bei den arabischen Ärzten in Granada und Cordoba als die wissenschaftliche, wenn auch nicht allgemeinverständliche Erklärung. Das düstere Interesse an diesen Fragen förderte den Gebrauch der Landessprachen. Zumindest in der Hinsicht spendete der Tod auch Leben.
     
    Für das Volk aber konnte es nur eine Erklärung geben, der Zorn Gottes. Die Planetenbahnen mochten die studierten Gelehrten befriedigen, den Durchschnittsmenschen stand Gott näher. Eine solche Geißel der Menschheit, die so schonungslos und unbarmherzig ihre Opfer forderte, konnte nur als göttliche Strafe für menschliche Sünden aufgefaßt werden. Sie mochte gar Gottes endgültige Enttäuschung über seine Geschöpfe ausdrücken. Villani verglich die Seuche mit der Sintflut und glaubte, daß er von »der Ausrottung der Menschengattung berichtete«. Versuche, den göttlichen Zorn zu besänftigen, nahmen die verschiedensten Formen an. Der Stadtrat von Rouen ordnete an, daß alles, was göttlichen Zorn auf die Stadt herabziehen könnte, verboten war, Spielen, Fluchen und Trinken. Weiter verbreitet waren die Bußprozessionen, die vom Papst zunächst autorisiert wurden, aber nur dazu führten, die Seuche noch weiter zu verbreiten, da an Märschen von bis zu drei Tagen Dauer manchmal zweitausend Büßer teilnahmen. [Ref 94]
    Barfuß, mit Sacktuch bekleidet, die Häupter mit Asche bestreut, weinend, betend und mit zerrauften Haaren, Kerzen und Reliquien tragend, manchmal den Henkerstrick um den Hals gelegt oder sich ohne Unterlaß geißelnd, so zogen die Büßer in endlosen Prozessionen durch die Straßen. Sie erflehten die Gnade der Jungfrau und die Fürsprache der Heiligen. In einer anschaulichen Illustration für die Très Riches Heures des Herzogs von Berry ist der

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