Der ferne Spiegel
Papst bei einer Bußwallfahrt zu sehen, von vier Kardinälen begleitet, von Kopf bis Fuß in scharlachroten Gewändern. Er hebt beide Hände, um den Engel auf der Spitze der Burg St. Angelo um Gnade anzuflehen, während sich weißgekleidete Priester, die Fahnen und Reliquien in goldenen Kästen tragen, umwenden und einen der ihren anblicken, der, von der Pest geschlagen, mit angstverzerrtem Gesicht zu Boden sinkt. Hinten bricht ein graugekleideter Mönch neben einem anderen Opfer, das schon auf dem Boden liegt, zusammen.
Die Stadtbevölkerung schaut entsetzt zu. (Genaugenommen zeigt die Illustration eine Prozession des sechsten Jahrhunderts anläßlich einer Seuche zur Zeit Papst Gregors des Großen; aber der mittelalterliche Künstler unterschied nicht zwischen Gegenwart und Vergangenheit und zeigte das Ereignis so, wie es sich im 14. Jahrhundert zugetragen hätte.) Als deutlich wurde, daß die Prozessionen eine Quelle der Ansteckung waren, sah sich Papst Klemens VI. gezwungen, sie zu verbieten.
In Messina, wo die Seuche zuerst aufgetreten war, baten die Stadtbewohner den Erzbischof des benachbarten Catania, ihnen die Reliquien der heiligen Agatha zu leihen. Als die Catanier sich weigerten, die Reliquien herauszugeben, tauchte der Erzbischof sie in Weihwasser und brachte das Wasser selbst nach Messina, wo er es in einer Prozession unter Gebeten und Litaneien durch die Straßen trug. Das Dämonische, das sich den mittelalterlichen Kosmos mit Gott teilte, erschien in mannigfacher Gestalt: »Ein schwarzer Hund mit einem blanken Schwert in den Pfoten erschien unter ihnen, er knirschte mit den Zähnen, stürzte auf sie zu und zerbrach all die silbernen Gefäße, Lampen und Kerzenleuchter der Altäre und warf sie hin und her . . . So wurde das Volk von Messina, das diese entsetzliche Erscheinung sah, von heilloser Furcht ergriffen.« [Ref 95]
Das offenbare Fehlen einer irdischen Ursache gab der Seuche einen übernatürlichen und geheimnisvollen Anschein. Die Skandinavier glaubten, daß eine Pestjungfer dem Mund des Toten als kleine blaue Flamme entsprang und durch die Luft flog, um das nächstliegende Haus zu infizieren. In Litauen glaubte man, daß die Pestjungfrau rote Tücher in Fenster und Türen flattern ließ, um die Pest einzulassen. Ein tapferer Mann hat der Legende zufolge mit gezogenem Schwert an seinem Fenster gewartet, bis er die Hand mit dem wehenden Tuch entdeckte, um sie abzuschlagen. Er selbst starb an dieser Tat, bewahrte aber sein Dorf vor der Pest, und das Tuch wurde lange als Reliquie in der örtlichen Kirche verehrt.
Jenseits allen Aberglaubens und aller Dämonen enthüllte sich aber letztlich die Hand Gottes. Im September 1348 verkündete der Papst in einer Bulle, daß »Gott die Menschheit mit der Seuche geschlagen hat«. Für Kaiser Johannes Kantakuzenos war es offensichtlich, daß eine Krankheit von solchem Schrecken, Gestank und
solchen Qualen, die ihre Opfer noch vor dem Tod in elende Verzweiflung stürzte, keinen »natürlichen« Ursprung haben konnte, »eine Züchtigung des Himmels« sein mußte.
Die breite Übernahme dieser Sicht schuf ein weitverbreitetes Schuldbewußtsein, denn wenn die Seuche eine Strafe war, dann mußten schreckliche Sünden sie hervorgerufen haben. Welche Sünden lagen dem 14. Jahrhundert auf dem Gewissen? Vor allem Gier, die Sünde der Habsucht, gefolgt von Wucher, Weltlichkeit, Ehebruch, Gotteslästerung, Heuchelei, Luxus und Irrlehre. Als Giovanni Villani versuchte, die Lawine des Unheils, die über Florenz hereingebrochen war, zu erklären, kam er zu dem Ergebnis, daß die Sünden der Habgier und des Wuchers, die die Armen drückten, für die Heimsuchung verantwortlich seien.
Oftmals schon hatten verschiedene Schriftsteller ihren Zorn und ihr Mitleid über die Lebensbedingungen der Armen, vor allem das Los der Bauern zu Kriegszeiten, ausgedrückt, Verhältnisse, die sicherlich das Gewissen des Jahrhunderts belasteten. Allem Schuldbewußtsein zugrunde lag die Realität des täglichen mittelalterlichen Lebens, in dem kaum eine Handlung oder ein Gedanke nicht den kirchlichen Geboten widersprach, sei es auf sexuellem, kommerziellem oder militärischem Gebiet. Die Folge war ein unterirdischer See von Schuld, den die Pest nun an die Oberfläche brachte.
Medizinische Versuche, es mit der Seuche aufzunehmen, fruchteten wenig. Es gab kein Gegenmittel und keine Vorbeugung. Da die Ärzte die Seuche nicht bekämpfen konnten, versuchten sie, sie zumindest zu zügeln,
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