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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
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auf, die ihre Kinder im Stich ließen, und von Kindern, die ihre Eltern verließen. »Die Pest ließ die Herzen der Menschen gefrieren«, schrieb Boccaccio in seinem berühmten Bericht über die Pest in Florenz, der die Einleitung zum Decameron bildet. »Jeder wich dem anderen aus . . . Blutsverwandte wandten sich ab, der Bruder verließ den Bruder, auch Männer ihre Frauen, und, was kaum zu glauben ist, Väter und Mütter überließen ihre kranken Kinder dem grausamen Schicksal, unversorgt, einsam, als ob sie Fremde gewesen wären.« Das 14. Jahrhundert ist für seine Übertreibungen und seinen literarischen Pessimismus bekannt, aber auch der päpstliche Arzt, Guy de Chauliac, ein nüchterner, gewissenhafter Beobachter, berichtet dasselbe. »Kein Vater besuchte seinen Sohn, kein Sohn seinen Vater. Die Wohltätigkeit war tot.«
    Als die Pest im Juli 1348 nach Nordfrankreich kam, setzte sie sich zuerst in der Normandie fest und ließ, aufgehalten durch den Winter, der Picardie einen trügerischen Aufschub bis zum nächsten Sommer. Von den Kirchtürmen der Normandie wehten zum Zeichen der Trauer und der Warnung schwarze Fahnen. Und »die Sterblichkeit in der Normandie zu dieser Zeit war so groß«, schrieb ein Bruder der Abtei Fourcarment, »daß man sich in der Picardie darüber lustig machte«. Dasselbe unnachbarschaftliche Verhalten zeigten die Schotten, als sie nur noch ein Winter von der englischen Pestwelle trennte. Begeistert, als sie hörten, daß die Seuche die »Südlichen« heimsuchte, stellten sie ein Invasionsheer zusammen »und lachten über ihre Feinde«. Bevor sie aufbrechen konnten, fiel der grimmige Tod auch über sie her, zerstreute das Heer in Tod und Panik, und die, die flohen, verbreiteten die Seuche im Land. [Ref 87]
    Im Sommer 1349 erreichte die Pest die Burg der Coucys. Sie tötete Enguerrands Mutter Katharina und ihren neuen Mann. Ob ihr neunjähriger Sohn der Seuche nur durch einen Zufall entkam oder ob er mit einem seiner Leibwächter ein anderes Domizil aufgesucht hatte, ist nicht überliefert. Im nahe gelegenen Amiens begannen
die Gerbereiarbeiter, angespornt durch die immensen Verluste an Arbeitskräften, höhere Löhne zu fordern. Anderswo konnte man die Dorfbewohner beobachten, wie sie zu den Klängen von Trommeln und Trompeten tanzten; gefragt warum, antworteten sie, daß sie glaubten, sie könnten die Seuche »durch ihre Fröhlichkeit fernhalten. Darum tanzten sie.« Weiter nördlich in Tournai an der Grenze zu Flandern verfaßte Gilles li Muisis, Abt des Klosters St. Martin, einen der lebendigsten Berichte über das unaufhaltsame Vorrücken der Epidemie. Die Totenglocken läuteten Tag und Nacht, berichtet er, denn die Glöckner wollten ihr Geschäft verrichten, solange es ging. Die Stadt war mit den Stimmen der Trauer erfüllt, und auf ihr lastete die Furcht. Daraufhin verboten die städtischen Behörden, Schwarz zu tragen, die Totenglocken zu läuten, und beschränkten den Trauerzug auf höchstens zwei Leidtragende. Diese Verbote wurden von den meisten Städten später übernommen. Siena setzte sogar eine Strafe auf das Tragen von Trauerkleidung aus, wenn es sich nicht um eine Witwe handelte.
    Die Flucht war das letzte Mittel derer, die es sich leisten konnten. Die Reichen flohen auf ihre Landsitze wie Boccaccios junge Patrizier von Florenz, die sich auf ein Landgut zurückzogen, das »fern aller Straßen« mit »Bächen von kühlem Wasser und Kellern voll seltenem Wein«ausgestattet war. Die Armen der Städte starben in ihren Behausungen, und »nur der Gestank ihrer verwesenden Körper machte die Nachbarn auf ihren Tod aufmerksam«. Daß die Armen von der Seuche härter betroffen waren als die Reichen, wurde sowohl im Süden als auch im Norden klar erkannt. Der schottische Chronist John of Fordun behauptete schlichtweg, daß die Pest »vor allem die einfachen Leute und die Armen befällt, weniger die großen Herren«. Dieselbe Beobachtung machte Simon de Covino in Montpellier. Er schrieb es der Armut und den härteren Lebensumständen zu, daß die Armen für die Krankheit anfälliger waren. Aber das war nur die halbe Wahrheit. Der beengte Lebensraum und der Mangel an hygienischen Einrichtungen waren die unerkannte andere Hälfte. Außerdem war festzustellen, daß verhältnismäßig mehr junge als alte Menschen starben. Simon de Covino verglich das Verschwinden der Jugend mit dem Welken der Blumen auf den Feldern. [Ref 88]

    In den ländlichen Gebieten fielen Bauern tot auf der

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