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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
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Straße um, sie starben auf den Feldern und in ihren Häusern. Die Überlebenden verfielen mit wachsender Hilflosigkeit in Apathie. Sie schnitten das Getreide nicht mehr und ließen das Vieh unversorgt in den Ställen. Ochsen und Esel, Schafe und Ziegen, Hühner und Schweine liefen frei herum, und auch sie verfielen nach dörflichen Berichten der Pest. Die englischen Schafe, Träger der wertvollen Wolle, starben im ganzen Land. Der Chronist Henry Knighton, Stiftsherr der Abtei von Leicester, berichtet von fünftausend toten Schafen in einem einzigen Feld. »Ihre Körper von der Pest so verdorben, daß kein wildes Tier und kein Vogel sie anrührte«, und sie verbreiteten einen entsetzlichen Gestank. In den österreichischen Alpen kamen die Wölfe zu Tal, um Schafe zu reißen, und »wandten sich, wie durch ein unsichtbares Zeichen gewarnt, um und flohen zurück in die Wildnis«. Im fernen Dalmatien fielen jedoch Wölfe in eine verseuchte Stadt ein und griffen die Überlebenden an. Aus Mangel an Schäfern verendeten frei umherziehende Herden in Hecken und Gräben. Katzen und Hunde blieben nicht verschont. [Ref 89]
    Der Mangel an Arbeitskräften verdüsterte die Zukunft, denn das 14. Jahrhundert war ganz auf die jährliche Ernte angewiesen, zum einen für die Versorgung mit Lebensmitteln, zum anderen für das Saatgut des nächsten Jahres. »Es waren so wenige Diener und Arbeiter übrig«, schrieb Knighton, »daß niemand wußte, wo er Hilfe bekommen sollte.« Das Gefühl einer zerstörten Zukunft verbreitete eine Art Wahnsinn der Hoffnungslosigkeit. Ein bayrischer Chronist aus Neuburg an der Donau überliefert, daß »Männer und Frauen wie verrückt umherwanderten« und das Vieh vernachlässigten, »weil niemand sich um die Zukunft sorgen wollte«. Die Felder wurden nicht mehr bestellt, im Frühjahr nicht gesät. Mit der schrecklichen Energie der Natur kroch die Wildnis über große Teile gerodeten Landes, Deiche verfielen, und Salzwasser säuerte die tiefgelegenen Weideflächen. Mit so wenigen verbleibenden Arbeitskräften, die das Werk von Jahrhunderten wiederherstellen sollten, ergaben sich nach Walsinghams Worten die Menschen in die Einsicht, »daß die Welt nicht mehr so reich wie vorher werden könne«.
    Obwohl die Sterblichkeitsrate unter den anonymen Armen höher
war, starben auch die Großen. König Alfons XI. von Kastilien war der einzige regierende Monarch, der der Pest zum Opfer fiel, aber sein Nachbar, König Peter von Aragon, verlor seine Frau, Königin Leonora, seine Tochter Marie und eine Nichte innerhalb von sechs Monaten. Johannes Kantakuzenos, Kaiser von Byzanz, verlor seinen Sohn. In Frankreich starben die lahme Königin Johanna und ihre Schwiegertochter Bonne von Luxemburg, die Frau des Dauphin, im Jahre 1349, zur gleichen Zeit also wie Enguerrands Mutter. Königin Johanna von Navarra, Tochter Ludwigs X., war ein weiteres Opfer. Johanna, die Tochter Eduards III., starb auf dem Weg zu ihrem zukünftigen Ehemann, Peter von Kastilien, in Bordeaux. Frauen scheinen anfälliger gewesen zu sein als Männer, vielleicht weil sie sich mehr im Haus aufhielten und damit mehr unter den Flöhen litten. Sowohl Boccaccios Geliebte Fiammetta, uneheliche Tochter des Königs von Neapel, als auch die Geliebte – ob real oder fiktiv – von Petrarca, Laura, starben. An uns in der Zukunft gewandt, rief Petrarca aus: »O glückliche Spätgeborene, die ihr solch abgrundtiefen Kummer nicht erfahren werdet und die ihr unsere Zeugnisse als Fabeln lesen werdet!« [Ref 90]
    In Florenz starb der große Historiker Giovanni Villani inmitten eines unvollendeten Satzes im Alter von 68 Jahren. ». . . e dure questo pistolenza fino a . . .« (. . . während der Pest endete . . .) Die Meistermaler von Siena, Ambrogio und Pietro Lorenzetti, werden seit 1348 namentlich nicht mehr erwähnt. Wahrscheinlich sind sie ebenso wie Andrea Pisano, Architekt und Bildhauer aus Florenz, der Pest zum Opfer gefallen. In England verschwinden Wilhelm von Ockham und der Mystiker Richard Rolle von Hampole aus den geschichtlichen Aufzeichnungen nach 1349. Francisco Datini, ein Kaufmann aus Prato, verlor sowohl seine Eltern als auch zwei Säuglinge. Seltsame Häufungen von Todesfällen rafften alle Zunftmeister der Londoner Schneider hinweg, alle sechs Meister der Hutmacher und vier Meister der Goldschmiede starben bis Juli 1350. Sir John Pulteney, Meister der Stoffhändlergilde und viermaliger Bürgermeister von London, fiel ebenso der Pest anheim wie Sir

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