Der ferne Spiegel
John Montgomery, Gouverneur von Calais. Aufgrund ihres Berufes war die Sterblichkeit unter den Doktoren und der Geistlichkeit natürlich besonders hoch. Von vierundzwanzig venezianischen
Ärzten sollen zwanzig während der Pest ihr Leben gelassen haben, obwohl einige von ihnen nach anderen Quellen geflohen sein oder sich in ihren Häusern eingeschlossen haben sollen. Laut Berichten von Simon de Covino soll in Montpellier, Sitz der führenden medizinischen Akademie des Mittelalters, trotz der großen Anzahl von Ärzten »kaum einer seinem Schicksal entkommen sein«. Guy de Chauliac von Avignon gab zu, daß er seine ärztliche Visite nur aus Furcht vor der Schande durchgeführt habe, aber »ich lebte in ständiger Angst«. Er behauptete, sich angesteckt zu haben, aber sich durch Selbstbehandlung geheilt zu haben; wenn das stimmt, dann war er einer der wenigen, die genasen.
Die Sterblichkeitsrate unter den Geistlichen variierte mit ihrem Rang. Obwohl der Tribut von einem Drittel, den die Pest von den Kardinälen forderte, dem Durchschnittsmaß entsprach, ist das nur durch ihre Konzentration im päpstlichen Palast in Avignon zu erklären. In England starben in seltsamer, fast unheimlicher Folge der Erzbischof von Canterbury, John Stratford, sein designierter Nachfolger und der nächste Amtsanwärter innerhalb eines Jahres von August 1348 bis Juli 1349. Trotz solcher merkwürdigen Zufälle hatten die Prälaten doch eine größere Überlebenschance als der niedere Klerus. Unter den Bischöfen starb einer von zwanzig. Die Zahl der Todesfälle unter den Priestern entsprach dagegen dem Bevölkerungsdurchschnitt, obwohl sich viele der schrecklichen Pflicht, den Sterbenden beizustehen, entzogen. Regierungsbeamte, deren Ableben das allgemeine Chaos noch verschlimmerte, blieben nicht häufiger als der Durchschnitt vom Seuchentod verschont. In Siena starben vier von neun Mitgliedern der regierenden Oligarchie, in Frankreich lichtete die Pest die Reihen der königlichen Notare um ein Drittel. In Bristol starben 15 von 52 Stadtratsmitgliedern. Das Eintreiben von Steuern war so eingeschränkt, daß König Philipp VI. nur über einen Bruchteil des Steueraufkommens verfügen konnte, das die Stände ihm im Winter 1347 / 1348 genehmigt hatten. [Ref 91]
Gesetzlosigkeit und Sittenverfall begleiteten die Pest, wie sie es schon in Athen 430 v. Chr. getan hatten, als die Menschen sich Thukydides zufolge in Ausschweifungen gegenseitig übertrafen: »Denn die Besitzenden wurden nach ihrem plötzlichen Tod sofort
von den Besitzlosen beerbt, welche glaubten, daß Leben und Reichtum gleichermaßen vergänglich seien, und die sich daher entschlossen, sich zu vergnügen, solange sie konnten!« Menschliches Verhalten ist zeitlos. Als der heilige Johannes die Vision der Pest in seiner Offenbarung beschrieb, wußte er aus Erfahrung oder einer tiefen Menschheitserinnerung heraus, daß die Überlebenden »das Werk ihrer Hände nicht bereuten . . . Sie bereuten nicht ihre Morde noch ihre Hexereien noch ihre Unzucht noch ihre Diebstähle.«
Die Unwissenheit über die Ursache der Seuche steigerte das Gefühl des Schreckens. Von den wirklichen Überträgern, den Ratten und Flöhen, hatten die Menschen keine Ahnung, vielleicht weil sie ihnen so vertraut waren. Obwohl die Flöhe ein lästiger Teil jedes Haushalts waren, werden sie in keiner Schrift über die Pest erwähnt und Ratten nur beiläufig, obwohl die Folklore sie im allgemeinen mit der Pest in Verbindung brachte. Die Legende des Rattenfängers entstand bei einem Ausbruch der Seuche im Jahre 1284. Der Pestbazillus, Pasturella pestis , blieb aber für weitere fünfhundert Jahre unentdeckt. Er lebte abwechselnd im Verdauungssystem des Flohs und der Blutbahn der Ratte, die das Wirtstier des schmarotzenden Flohs war. Auf den Menschen wurde der Bazillus, insbesondere der Beulenpest, durch den Biß eines Flohs oder einer Ratte übertragen. Er verbreitete sich durch den Wandertrieb der Rattus rattus , der kleinen, schwarzen, mittelalterlichen Ratte, die sowohl auf Schiffen als auch an Land lebte, und der größeren braunen Wanderratte. Was den Bazillus virulent machte, ist unbekannt. Man glaubt aber jetzt, daß das Entstehungsgebiet der Seuche Zentralasien und nicht China war und daß sie sich von dort über die Karawanenrouten verbreitete. [Ref 92]
Das Schreckgespenst hatte keinen Namen. Nur in späteren Berichten der Schwarze Tod genannt, wurde es während der ersten Epidemie nur als Pestilenz oder
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