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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
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in seiner Todeszelle ein seltsames Licht. Diese Begebenheit verbreitete sich schnell, und seine Heiligsprechung wurde beschlossen. Seitdem glaubten die Menschen, daß Gott jeden heilte, der ihn im Namen des heilige Rochus anrief. Als aber selbst diese Fürsprache versagte, galt als erwiesen, daß die Menschen so verrucht geworden seien, daß Gott ihr Ende wirklich beschlossen hatte. In den Worten Langlands: »Gott ist taub in dieser Zeit, er erhört uns nicht, und Gebete können die Gewalt der Pest nicht brechen.« [Ref 97]
    In entsetzlicher Umkehrung wurden Rochus und andere Heilige dann als die Verantwortlichen für den Ausbruch der Pest betrachtet,
als die Werkzeuge des Zorns Gottes. »Im Jahre des Herrn 1348, zur Zeit des großen Sterbens«, so schrieb der Rechtsgelehrte Bartolus von Sassoferrato, »war die Unbarmherzigkeit Gottes größer als die der Menschen.« Aber er täuschte sich.
    Die Unbarmherzigkeit der Menschen erwies sich an den Juden. Aufgrund der Anklage, daß sie die Brunnen vergifteten, »um die gesamte Christenheit zu töten und die ganze Welt zu beherrschen«, folgten 1348 Lynchmorde den ersten Pesttoten. Die ersten Übergriffe geschahen in Narbonne und Carcassonne, wo Juden aus ihren Häusern gezerrt und auf Scheiterhaufen geworfen wurden. Obwohl die Pest als Strafe Gottes verstanden wurde, suchten die Überlebenden in ihrem Elend nach einem menschlichen Missetäter, über dem sie den Zorn entladen konnten, der gegen Gott nicht zu richten war. Als der ewige Fremde war der Jude das naheliegende Ziel. Er war der Außenseiter, der sich durch freie Wahl von der Gemeinschaft der Christenheit abgesondert hatte, den zu hassen die Christen seit Jahrhunderten gelernt hatten, der als Urheber allen Übels gegen die christliche Welt betrachtet wurde. Er lebte in einer geschlossenen Gemeinschaft in bestimmten Straßen und Vierteln. Der Jude war ein handfestes Angriffsziel, das zudem reiche Beute versprach. Die Anklage der Brunnenvergiftung ging bis auf die Pest von Athen in der Antike zurück, als den Spartanern dieses Verbrechen zur Last gelegt wurde. Als die Pest nun den Kontinent eroberte, wurden die Anklagen gegen die Juden sofort wieder erhoben. [Ref 98]
    . . . Flüsse und Quellen,
die sauber und klar warn,
sie haben sie überall vergiftet . . .,
    schrieb der französische Hofdichter Guillaume de Machaut.
    Die Feindschaft gegen die Juden hatte uralte Wurzeln. Sie waren zum Ziel öffentlichen Hasses geworden, weil die frühchristliche Kirche sie dazu gemacht hatte, als sie sich von der Tradition des Judaismus abzusetzen versuchte. Da die Juden sich hartnäckig weigerten, Christus als den Messias, den Erlöser, anzuerkennen, auch das Neue Testament ablehnten und an den alten Gesetzen Moses’
festhielten, waren sie eine Gefahr für die junge christliche Kirche, ein Unruheherd, der von der christlichen Gemeinde ferngehalten werden mußte. Das war der Hintergrund der kirchlichen Edikte des 4. Jahrhunderts, die den Juden seiner Bürgerrechte beraubten, sobald sie Staatsreligion geworden waren. Die Trennung war aber keine Einbahnstraße, da für die Juden das Christentum zuerst eine Dissidentensekte war, dann als eine Renegatenreligion betrachtet wurde, mit der sie keinerlei Beziehung wollten.
    Die Theorie, die Emotionen und die Rechtfertigungen des Antisemitismus stammen aus jener Zeit, aus den kanonischen Gesetzen der Konzilien des 4. Jahrhunderts. Der heilige Johannes Chrysostomos, Patriarch von Antiochia, bezeichnete die Juden in seinen Tiraden als Christusmörder; nach dem Urteil des heiligen Augustinus waren die Juden »Verfemte«, weil sie die Erlösung durch Jesus Christus nicht anerkannten. Die Zerstreuung der Juden in alle Welt wurde als Strafe für ihre Ungläubigkeit aufgefaßt.
    Die Phase tätlicher Angriffe begann mit der Zeit der ersten Kreuzzüge, als alle inneren Auseinandersetzungen Europas zu einem Speer gegen die Ungläubigen zusammengeschweißt wurden. In Übereinstimmung mit der Theorie, daß die »Ungläubigen zu Hause« genauso vernichtet werden müßten, kennzeichnete eine Spur der Verwüstung jüdischer Siedlungen den Zug der Kreuzritter nach Palästina. Die Eroberung des Heiligen Grabes durch die Mohammedaner wurde auf »die Sündhaftigkeit der Juden zurückgeführt«, und der Kampfruf »Hep! Hep!«, der dem verlorenen Jerusalem galt (Hierosolyma est Perdita) , wurde zum Mordgeschrei. Was der Mensch haßt, das fürchtet er; die Juden wurden als Unholde dargestellt, die mit

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