Der ferne Spiegel
zerstörerischem Haß auf die Menschheit erfüllt waren. Die Frage, ob die Juden bestimmte Menschenrechte genössen, da Gott alle Menschen, auch die Ungläubigen, gleich geschaffen habe, wurde von verschiedenen Denkern verschieden beantwortet. Nach der offiziellen Lehre gestand ihnen die Kirche einige Rechte zu: Juden sollten nicht ohne Gerichtsverfahren verurteilt werden, ihre Synagogen und Friedhöfe durften nicht geschändet und ihr Eigentum ihnen nicht straflos genommen werden. In der Praxis bedeutete das wenig, da die Juden als Ungläubige keine Anklagen gegen Mitglieder der christlichen Gemeinschaft
vorbringen durften und die Aussage eines Juden gegen die eines Christen nichts galt. Ihr gesetzlicher Status war der von Leibeigenen des Königs, ohne daß jener allerdings die entsprechenden Schutzgarantien übernehmen mußte. Die Doktrin, daß die Juden als Strafe für ihren Mord an Jesus Christus auf ewig zur Sklaverei verdammt waren, wurde von Papst Innozenz III. 1205 verkündet. Mit erbarmungsloser Logik führte Thomas von Aquin diesen Gedanken weiter und schloß, daß »die Kirche über jüdisches Eigentum verfügen könne, da die Juden Sklaven der Kirche sind«. Gesetzlich, politisch und physisch waren die Juden schutzlos.
Sie erhielten sich ihren Platz in der Gesellschaft, da sie als Geldverleiher bei der ständigen Geldnot der Könige eine wesentliche Funktion innehatten. Sie waren durch die Gilden aus allen handwerklichen Berufen und vom Handel ausgeschlossen und so zu Bagatellgeschäften und dem Geldverleih gezwungen, obwohl ihnen offiziell Geschäfte mit Christen verboten waren. Aber immer beugt sich die Theorie der Praxis, und so wurden die Juden für die Christen zu einem Weg, ihren selbstauferlegten Bann gegen die Zinswirtschaft zu umgehen.
Da die Juden ohnehin verdammt waren, durften sie ihre Geschäfte zu Zinssätzen bis zu 20 Prozent abwickeln, wovon der königliche Schatzmeister den Hauptanteil beanspruchte. Der Gewinn für die Krone war real eine Form indirekter Besteuerung; als deren sichtbare Eintreiber zogen die Juden zusätzlich den öffentlichen Haß auf sich. Sie lebten in einer völligen Abhängigkeit vom Schutz des Königs, ständig bedroht durch Beschlagnahmung, Vertreibung und die Unwägbarkeiten der königlichen Gunst. Adlige und Prälaten folgten dem königlichen Beispiel, vertrauten den Juden größere Geldsummen zum Zweck von Zinsgeschäften an, strichen den Löwenanteil des Profits ein und überließen ihre Agenten dem Zorn des Volkes. Für das Volk waren die Juden nicht nur die Christusmörder, sondern raubgierige, erbarmungslose Ungeheuer, die die aufkommende Macht des Geldes verkörperten, die die Traditionen zerstörte und alte Bindungen auflöste. Als der Handel im 12. und 13. Jahrhundert aufblühte und den Geldumlauf erhöhte, nahm der Einfluß der Juden entsprechend ab, weil sie nun weniger gebraucht wurden. Sie besaßen nicht die immensen Geldsummen, über die
die oberitalienischen Bankiers wie die Bardis in Florenz gebieten konnten. In ihrem wachsenden Geldbedarf wandten sich Könige und Fürsten um Kredite an die Lombarden und die reichen Kaufleute und vernachlässigten zunehmend die Schutzgarantien für die Juden. Wenn sie Bargeld benötigten, beschlossen sie sogar eine Judenvertreibung, beschlagnahmten deren Eigentum und beseitigten damit zugleich ihre eigenen Schulden. Zur gleichen Zeit – die Inquisition hielt im 13. Jahrhundert ihren Einzug in Europa – wuchs die religiöse Intoleranz, die sich in der Anklage, daß die Juden Ritualmorde an Christen begingen, äußerte. Die Juden wurden gezwungen, ein Abzeichen zu tragen. Im 12. Jahrhundert war der Glaube aufgekommen, daß die Juden rituelle Christenmorde durchführten und Schwarze Messen abhielten, in denen die Hostie geschändet wurde. Die angeblichen Morde wurden als zwanghafte Wiederholungen der Kreuzigung Christi gedeutet. Von volkstümlichen Predigern verbreitet, entwickelte sich eine Blutmythologie, die wahrscheinlich das christliche Ritual, das Blut des Messias zu trinken, spiegelte. Man glaubte, daß Juden Christenkinder entführten, um deren Blut aus den verschiedensten verwerflichen Gründen zu trinken. Obwohl diese Auffassung von Rabbis, Kaiser und Papst erbittert bekämpft wurde, ergriff die Verleumdungsgeschichte die Volksseele, am nachhaltigsten in Deutschland, wo im 12. Jahrhundert auch die Auffassung von den »Brunnenvergiftern« Fuß gefaßt hatte. Diese blutrünstige Verleumdung diente auch als
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