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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
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Brunnen und Quellen zu träufeln, und sie sollten sich mit ihren Glaubensgenossen auf geheimen Versammlungen getroffen haben. In aller Form schuldig gesprochen, wurden die Angeklagten zum Tode verurteilt. Elf Juden übergab man bei lebendigem Leibe dem Feuer, die restlichen Angeklagten mußten sich gegen eine monatliche Buße von 160 Florins für die nächsten sechs Jahre die Erlaubnis erkaufen, in Savoyen bleiben zu dürfen.
    Die Geständnisse von Savoyen verbreiteten sich per Brief von Stadt zu Stadt und bildeten die Basis für eine Welle von Anschuldigungen und Angriffen im Elsaß, in der Schweiz und in Deutschland. Auf einem Treffen von Würdenträgern elsässischer Städte versuchte die Oligarchie von Straßburg, die Anklagen zu widerlegen, aber sie wurde von der Mehrheit überstimmt, die Vergeltung und Vertreibung forderte. Diese Verfolgungen während der Zeit des Schwarzen Todes waren also nicht immer spontane Ausbrüche
der Volkswut, sondern häufig lange im voraus abgestimmte Maßnahmen.
    Im September 1348 versuchte Papst Klemens VI. erneut, mit einer Bulle der Judenhysterie entgegenzutreten. Er erklärte, daß diejenigen, die die Seuche den Juden anlasten wollten, von »jenem Lügner, dem Teufel, verführt seien« und daß die Anklage der Brunnenvergiftung und die damit verbundenen Massaker »schreckliche Dinge« seien. Er führte aus, daß »aufgrund des unerklärlichen Ratschlusses Gottes« alle Menschen einschließlich der Juden mit der Pest geschlagen seien, daß sie auch Gegenden befallen habe, in denen keine Juden lebten, und daß sie ansonsten genauso Opfer der Seuche würden wie alle anderen auch. Er stellte fest, daß die Anklage deshalb »keinerlei Plausibilität« besitze. Er nötigte die Geistlichkeit, die Juden unter ihren Schutz zu stellen, wie er es selbst in Avignon tat, aber seine Stimme wurde im Lärmen des aufgebrachten Volkes kaum gehört.
    Am 9. Januar 1349 wurde in Basel die ganze jüdische Gemeinde von einigen hundert Köpfen in einem eigens für diesen Zweck aufgestellten Holzhaus auf einer Rheininsel verbrannt, und ein Dekret wurde erlassen, daß es für die nächsten zweihundert Jahre keinem Juden mehr erlaubt sein sollte, sich in Basel niederzulassen. In Straßburg wurde der Stadtrat, der sich der Judenverfolgung widersetzte, mit den Stimmen der Zünfte abgesetzt. Ein neuer wurde gewählt, der mit dem Volkswillen übereinstimmte. Im Februar 1349, noch bevor die Pest die Stadt erreichte, wurden die Juden von Straßburg, etwa zweitausend, auf den Friedhof geführt und mit Ausnahme derer, die sich konvertieren ließen, an Pfählen verbrannt.
    Inzwischen hatte sich noch eine andere Stimme gegen die Juden erhoben. Die Flagellanten [Ref 102] waren aufgetaucht. In verzweifelter Anrufung der Gnade Gottes verbreitete die Bewegung sich in einem plötzlichen Fieber mit der gleichen grimmigen Ansteckungskraft über Europa wie die Pest selbst. Das Flagellantentum sollte Reue ausdrücken und die Sünden aller Menschen sühnen. Als Form der Buße, die Gott bewegen sollte, Sünde zu vergeben, gab es die Selbstgeißelung schon lange vor den Pestjahren. Die Flagellanten aber sahen sich selbst als Erlöser, die durch die Wiederholung der
Geißelung Christi an ihrem eigenen Körper für die Missetaten der Menschen büßten.
    Organisierte Gruppen von zwei- bis dreihundert Menschen – einige Chronisten sprechen sogar von bis zu tausend – zogen von Stadt zu Stadt, nackt bis zum Gürtel, und geißelten sich mit Lederpeitschen, die an den Enden Metallspitzen hatten, bis das Blut floß. Sie riefen Christus und die Heilige Jungfrau laut um Gnade an, flehten zu Gott: »Verschone uns!«, während die Stadtbewohner am Straßenrand standen und in das allgemeine Weinen und Wehklagen einstimmten. Diese Gruppen veranstalteten dreimal täglich regelrechte Aufführungen, zwei öffentliche auf dem Kirchplatz und eine dritte ohne Publikum. Sie wurden von einem Laienmeister geführt, dem sie Gehorsam gelobt hatten, sie durften sich nicht baden noch rasieren, sie durften ihre Kleider nicht wechseln, nicht in Betten schlafen und ohne Erlaubnis ihres Meisters nicht mit Frauen sprechen oder verkehren. Offensichtlich ist diese Erlaubnis verschiedentlich gewährt worden, da die Flagellanten später wegen Orgien angeklagt wurden, in denen das Auspeitschen mit Sex verbunden war. Frauen durften die Gruppen nur in getrennten Zügen begleiten, die meistens den Schluß einer solchen Bußprozession bildeten. Wenn eine Frau oder

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