Der ferne Spiegel
haben.
Vollständigkeit ist in der Geschichte selten, und die jüdischen Chronisten werden an der mittelalterlichen Sucht nach der großen Zahl Anteil gehabt haben. Gewöhnlich rettete sich eine gewisse Anzahl der Verfolgten durch Konvertierung, Flüchtlinge fanden Schutz bei Ruprecht I. von der Pfalz und anderen Fürsten. Herzog Albrecht II. von Österreich, Großonkel von Enguerrand VII., war einer der wenigen Landesherren, die die Juden mit ausreichenden Maßnahmen gegen Übergriffe der Volkswut schützten. Die letzten Pogrome fanden in Antwerpen und Brüssel statt, wo im Dezember 1349 die gesamte jüdische Gemeinde ausgerottet wurde. Als die Pest vorüber war, gab es nur noch wenige Juden in Deutschland oder den Niederlanden. [Ref 103]
Inzwischen hatten Staat und Kirche beschlossen, das Risiko auf sich zu nehmen, die Flagellanten zu unterdrücken. Magistrate befahlen, die Stadttore zu schließen, wenn sich die Züge näherten. Klemens VI. rief im Oktober in einer Bulle zur Auflösung und Festnahme der Flagellanten auf; die Universität von Paris sprach ihnen die göttliche Legitimation ab. Philipp VI. stellte prompt die
öffentliche Selbstgeißelung unter Todesstrafe; örtliche Landesherren verfolgten nun ihrerseits die Flagellanten als »Meister der Irrlehre«, nahmen sie gefangen, hängten und köpften sie. Die Büßerzüge lösten sich auf, und ihre Mitglieder flohen, »sie verschwanden so plötzlich, wie sie gekommen waren«, schrieb Heinrich von Herford, »wie Nachtgespenster oder dunkle Phantome«. Hier und da konnten sich einzelne Gruppen halten, endgültig unterdrückt war die Bewegung erst 1357.
Wie heimatlose Geister sickerten die Juden aus Osteuropa zurück, wohin sie die Verfolgungen getrieben hatten. In Erfurt tauchten 1354 zwei jüdische Besucher auf, die drei Jahre später mit Unterstützung anderer erneut eine Ansiedlung begründeten. 1356 zählte die Gemeinde bereits wieder 86 steuerpflichtige Haushalte und eine zusätzliche Anzahl ärmerer, die unter dem steuerpflichtigen Einkommen lagen. Hier wie überall lebten sie nun wieder in geschwächten und ängstlichen Gemeinden, unter schlechteren Bedingungen und größerer Isolation als vorher. Brunnenvergiftung und die Massaker hatten den bösartigen Juden zu einem Stereotyp gemacht. Aber Juden waren nützlich, und deshalb erlaubten viele Städte ihre Rückkehr, erlegten ihnen aber neuerliche Beschränkungen auf. Kontakte, die die Juden früher als Gelehrte, Ärzte oder Finanziers zu den Christen pflegen konnten, waren nun unmöglich. Die mittelalterliche Blüte des europäischen Judentums war vorüber. Die Mauern des Gettos waren, wenn nicht real, so doch sozial, gezogen. [Ref 104]
Wie waren die Lebensbedingungen nach der Seuche? Erschöpft von Tod und Trauer und den morbiden Exzessen von Furcht und Haß, hätten die Menschen eigentlich tiefe Wirkungen zeigen müssen, aber radikale Umschwünge waren vorerst nicht zu beobachten. Das Normale ist zählebig. Der soziale Wandel sollte unterschwellig und allmählich eintreten; unmittelbare Wirkungen gab es, aber sie waren sehr uneinheitlich. Simon de Covino glaubte, daß die Seuche einen schlimmen Effekt auf Moral und Sitten ausgeübt habe und »die Tugend in der ganzen Welt herabgesetzt sei«. Gilles li Muisis dagegen behauptete, daß die öffentliche Moral verbessert worden sei, weil viele Leute, die früher in wilder Ehe gelebt
hatten, nun (aufgrund städtischer Verordnungen) heirateten und weil das Fluchen und Spielen derartig zurückgegangen sei, daß die Hersteller von Würfelspielen ihre Produktion auf Rosenkränze umgestellt hätten.
Zweifellos stieg die Heiratsrate an, wenn auch nicht der Liebe wegen. So viele Abenteurer nutzten die Notlage von Waisen aus, indem sie sie nur um ihres Erbes willen heirateten, daß die Oligarchie von Siena den weiblichen Waisen verbot, ohne Zustimmung ihrer Verwandtschaft zu heiraten. In England beklagte Piers Plowman die »vielen Paare, die seit der Pest nur aus Gründen der Habgier und gegen ihre Gefühle« geheiratet hätten, woraus, wie er schreibt, folgte, daß sie »in Schuld und Kummer . . . , Eifersucht, Freudlosigkeit und Streit« lebten – ohne Kindersegen. Es scheint den Moralisten Piers befriedigt zu haben, daß diese Ehen unfruchtbar blieben. Ganz anders urteilte Jean de Venette, der sagte, daß die nach der Pest geschlossenen Ehen viele Zwillings-, manchmal sogar Drillingsgeburten hervorbrachten und nur wenige Frauen unfruchtbar waren.
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