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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
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Vielleicht spiegelte er damit aber auch nur die verzweifelte Hoffnung wider, daß die Natur den Verlust wieder wettmachen würde, und tatsächlich heirateten unmittelbar nach der Pest unverhältnismäßig viele Männer und Frauen. [Ref 105]
    Ganz im Gegensatz zu den in Rosenkränze verwandelten Würfeln wurden die Menschen nicht besser, wenn man auch erwartete, wie Villani schrieb, daß die Erfahrung des göttlichen Zorns aus ihnen »bessere, demütigere, tugendhaftere und katholischere Menschen« machen würde. Statt dessen »vergaßen sie die Vergangenheit, als ob es sie niemals gegeben hätte, und ergaben sich einem schamloseren und unordentlicheren Leben als je zuvor«. Durch den Überfluß an Handelsgütern, dem zu wenige Verbraucher gegenüberstanden, fielen die Preise zunächst, und die Überlebenden gaben sich einer Orgie der Verschwendungssucht hin. Die Armen zogen in die leeren Häuser, schliefen in Betten und aßen von Silbertellern. Die Bauern eigneten sich herrenlose Werkzeuge und Tiere an, übernahmen sogar Weinpressen, Schmieden und Mühlen, die keinen Eigentümer mehr hatten.
    Das soziale Verhalten wurde rücksichtsloser und gefühlloser wie oft nach Zeiten der Gewalt und des Leidens. Man schrieb die
Schuld daran Emporkömmlingen und Neureichen zu, die aus den unteren sozialen Schichten nach oben drängten. Im Jahre 1349 erneuerte Siena seine Gesetze zur Aufwandsbeschränkung, da viele Menschen durch ihr Äußeres den Anschein eines höheren sozialen Status erweckten, als ihnen nach Geburt oder Beruf zukam. Im ganzen gesehen läßt sich aber nach der Prüfung der Steuerregister sagen, daß die sozialen Proportionen der Bevölkerung sich nicht verändert hatten, obwohl sie zur Hälfte der Seuche zum Opfer fiel.
    Die unmittelbarste und sichtbarste Folge des Schwarzen Todes war natürlich die verringerte Bevölkerung, die durch Kriege, Raubzüge und neue Ausbrüche der Seuche bis zum Ende des 14. Jahrhunderts sogar noch weiter abnahm. Die Pest lag in der Gestalt ihres Bazillus wie ein Fluch über dem Jahrhundert. Sie sollte noch sechsmal in den nächsten sechzig Jahren an den verschiedensten Orten in unterschiedlichen Intervallen von zehn bis fünfzehn Jahren ausbrechen. Nachdem die Anfälligen ausgelöscht worden waren, zog die Pest sich, in ihrer letzten Phase von einer erhöhten Kindersterblichkeit begleitet, schließlich zurück. Sie hinterließ in Europa eine Bevölkerung, die 1380 um etwa 40 Prozent reduziert war und gegen Ende des Jahrhunderts beinahe um 50 Prozent. Die südfranzösische Stadt Béziers, die 1304 14000 Einwohner hatte, zählte hundert Jahre später nur noch 4000. Der Fischerhafen Jonquières nahe Marseille, der einst 354 steuerpflichtige Haushalte gemeldet hatte, war nun auf 135 geschrumpft. Die blühenden Städte Carcassonne und Montpellier waren nur noch Schatten ihrer früheren Wohlhabenheit, genauso Rouen, Arras, Laon und Reims im Norden. Das schwindende Steueraufkommen veranlaßte die Landesherren, die Steuerlast zu erhöhen, was zu einem Unwillen führte, der sich in den kommenden Jahrzehnten wiederholt in Aufständen Luft machen sollte. [Ref 106]
    Als der Schwarze Tod die Produktion verlangsamte, wurden Waren knapp, und die Preise schossen hoch. In Frankreich stieg der Weizenpreis 1350 um das Vierfache. Zur selben Zeit brachte die Knappheit an Arbeitskräften den schwerwiegendsten sozialen Einbruch, den die Pest verursachte: eine abgestimmte Forderung nach höheren Löhnen. Bauern entdeckten genau wie Handwerker, Tagelöhner und Priester den sozialen Hebel des stark reduzierten Arbeiterangebots.
Schon ein Jahr nach der Pest hatten die Textilarbeiter von St. Omer (in Nordfrankreich nahe Amiens) drei aufeinanderfolgende Lohnforderungen durchgesetzt. In vielen Gilden streikten Handwerker für höhere Löhne und kürzere Arbeitszeit. In einer Zeit, da soziale Bedingungen als unabänderlich galten, waren diese Aktivitäten geradezu revolutionär.
    Die Antwort der Regierenden hieß sofortige Unterdrückung. Um die Löhne auf dem Niveau der Zeit vor der Pest zu halten, gab die englische Krone 1349 eine Verordnung heraus, die bestimmte, daß jedermann für den Lohn von 1347 zu arbeiten habe. Auf Arbeitsverweigerung wurden Strafen ausgesetzt, genauso auf den Wechsel des Arbeitsplatzes für bessere Bezahlung und ebenso auf höhere Lohnangebote der Arbeitgeber. Da diese Verordnungen verkündet wurden, als das Parlament nicht tagte, wurden sie als die »Arbeiterstatuten« 1351 erneuert.

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