Der ferne Spiegel
ein Priester in den Kreis der Büßer trat, war die Buße wertlos geworden und mußte wiederholt werden. Die Bewegung war im wesentlichen antiklerikal und bedeutete eine Herausforderung der Geistlichkeit, da die Flagellanten sich selbst zum Mittler zwischen Gott und der ganzen Menschheit ernannten.
Von ihrem Ursprung in den deutschen Staaten überschwemmte die neue Bewegung die Niederlande bis Flandern und ergriff die Picardie bis Reims. Hunderte von Gruppen durchkreuzten das Land und betraten jede Woche neue Städte. Sie reizten die ohnehin überspannten Gefühle der Menschen noch weiter auf, sie beteten Litaneien und sangen Klagelieder, sie verkündeten, daß alle Welt »der ewigen Verdammnis« anheimfiele, wenn sie es nicht verhinderten. Die Stadtleute grüßten sie mit Ehrfurcht und Kirchengeläut, brachten sie in ihren Häusern unter und brachten Kinder zu ihnen, die sie heilen und – zumindest in einem Fall – von den Toten erwecken sollten. Man tauchte Tücher in das Blut der Flagellanten,
preßte sie an die Stirn und verehrte sie als Reliquien. Viele Menschen schlossen sich der Bewegung an, darunter Ritter, Adelsdamen, Geistliche, Nonnen und Kinder. Bald wanderten die Flagellantenzüge unter prachtvollen Samtbannern in Purpur und Gold durch das Land.
Sie wurden immer überheblicher und nahmen offen gegen die Kirche Stellung. Ihre Meister beanspruchten das Recht, die Beichte zu hören und Absolution zu erteilen und Bußen aufzuerlegen, was den Priestern nicht nur ihre Einkommensquelle nahm, sondern auch die kirchliche Autorität im Kern herausforderte. Priester, die sich den Amtsanmaßungen in den Weg stellten, wurden unter Beteiligung der Bevölkerung gesteinigt.
Die Gegner der Flagellanten wurden als Skorpione und Antichristen verfolgt. In einigen Fällen ergriffen die Flagellanten unter Führung von abgefallenen Priestern oder fanatischen Dissidenten Besitz von Kirchen, unterbrachen die Gottesdienste, verhöhnten die Eucharistie, plünderten die Altäre aus und gaben vor, die Kraft zu haben, böse Geister zu vertreiben und die Toten aufzuerwecken. Die Bewegung, die als ein Versuch begonnen hatte, durch selbstauferlegte Qualen die Welt vor dem Untergang zu retten, wurde vom Machthunger infiziert und versuchte nun, die Kirche zu übernehmen.
Die besitzende Klasse begann, die Flagellanten als umstürzlerische, revolutionäre Elemente zu fürchten. Kaiser Karl IV. bat den Papst, das Flagellantentum zu unterdrücken, und sein Wunsch wurde von der majestätischen Autorität der Universität von Paris unterstützt. Zu einer Zeit, da die Welt vor dem Untergang zu stehen schien, war es aber keine einfache Entscheidung, gegen die Flagellanten vorzugehen, die immerhin behaupteten, daß sie unter dem Einfluß des göttlichen Willens handelten. Einige der Kardinäle in Avignon waren gegen repressive Maßnahmen. Die Selbstquäler hatten inzwischen ein passenderes Opfer gefunden. In jeder Stadt, in die sie einzogen, eilten die Flagellanten unverzüglich in die Judenviertel. Ihnen folgte der städtische Pöbel, nach Rache an »den Brunnenvergiftern« schreiend. In Freiburg, Augsburg, Nürnberg, München, Königsberg, Regensburg und anderen Städten wurden die Juden mit einer Gründlichkeit abgeschlachtet, die
nach der endgültigen Lösung des Judenproblems zu trachten schien. Im März 1349 verbrannten sich in Worms die vierhundert Mitglieder der jüdischen Gemeinde, einer alten Tradition folgend, in ihren eigenen Häusern, um nicht dem Feind in die Hände zu fallen. Die größere Gemeinde von Frankfurt am Main ging denselben Weg im Juli des Jahres, wobei ein Teil der Stadt in Flammen aufging. In Köln wiederholte der Rat der Stadt die Auffassung des Papstes, daß die Juden wie alle anderen an der Pest stürben, aber die Flagellanten versammelten den Pöbel »derer, die nichts zu verlieren hatten«, und fegten jeden Einwand beiseite. In Mainz dagegen, der größten jüdischen Gemeinde Europas, griffen die Juden endlich zur Selbstverteidigung. Mit vorher herangeschafften Waffen töteten sie zweihundert des Pöbels, eine Tat, die aber nur einen noch wilderen Angriff der Stadtbevölkerung als Rache für den Tod von Christen auslöste. Die Juden kämpften, bis sie überwältigt wurden, zogen sich dann in ihre Häuser zurück und setzten sie in Brand. Am 24. August 1349 sollen sechstausend von ihnen in Mainz ums Leben gekommen sein. Von dreitausend jüdischen Einwohnern soll in Erfurt keiner überlebt
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