Der ferne Spiegel
konnte, klagte Petrarca, »ein steinernes Herz erweichen«. Nichtsdestoweniger gab es ein reiches Angebot an Reliquien berühmter Heiliger, und Kardinal Anibaldo Ceccano, der Legat für das Jubiläum, hatte ein ungeheures Programm an Absolutionen und Nachlässen für die reumütigen Massen bereitgestellt. Villani zufolge, der ein besonderes Interesse für Zahlen gehabt hat, hielt sich um die Fastenzeit des Jahres 1350 eine Million Menschen in Rom auf. Dieses enorme Aufgebot deutete entweder auf eine ungewöhnliche Unbedenklichkeit und Energie so kurz nach der Pest hin oder auf ein großes Bedürfnis nach Absolution. [Ref 108]
Die Kirche ging reicher, aber unpopulärer aus der Pestzeit hervor. Viele Pestkranke hinterließen in der Angst vor dem plötzlichen Tod ihren Besitz der Kirche – und in der Summe wurde das zu einer Flut von Gütern für die religiösen Institutionen. St. Germain l’Auxerrois in Paris erhielt 49 Erbschaften in neun Monaten, verglichen mit 78 in den vorhergehenden acht Jahren zusammen. Schon im Oktober 1348 unterbrach der Stadtrat von Siena seine jährlichen Zuwendungen an kirchliche Institutionen für zwei Jahre, weil diese durch Vermächtnisse »so immens reich und wahrhaftig fett geworden« waren. In Florenz erhielt die religiöse Gesellschaft von Or San Michele 350000 Florins, die zu Almosen für die Armen bestimmt waren; aber die Oberen der Gesellschaft wurden angeklagt, das Geld mit der Begründung für ihre eigenen Zwecke mißbraucht zu haben, daß die wirklich Bedürftigen und Armen während der Pest gestorben seien.
Während die Kirche Gelder anhäufte, vermehrten sich die tätlichen Angriffe auf Geistliche. Diese wurden teilweise durch die Flagellanten ausgelöst, teilweise gingen sie auf die Weigerungen von Priestern zurück, während der Seuche ihre Pflicht zu erfüllen. Daß sie starben wie jeder andere auch, wurde ihnen zweifellos vergeben, aber daß sie Christen in Zeiten der Not ohne geistlichen Beistand sterben ließen und daß sie unter diesen schweren Umständen mehr für ihre Dienste verlangten, nahm man ihnen tödlich übel. Sogar während der Festlichkeiten des Jubiläumsjahres verhöhnte das Volk von Rom den päpstlichen Kardinallegaten. Während einer Prozession schoß ein Heckenschütze auf ihn, und er kam bleich und zitternd mit einem Pfeil durch den Hut nach Hause zurück. Danach ritt er nur noch mit einem Helm unter seinem Hut und einem Panzer unter seinem Mantel aus und reiste sobald als möglich nach Neapel ab. Auf dem Wege dorthin starb er – vom Wein vergiftet, wie man sagte. [Ref 109]
Die Pest intensivierte die Unzufriedenheit mit der Kirche zu einer Zeit, als die Menschen ein großes Bedürfnis nach geistlichem Beistand empfanden. Die schreckliche Prüfung, die Gott ihnen auferlegt hatte, mußte irgendeine Bedeutung haben. Wenn sie die Menschen vom sündhaften Lebenswandel abbringen sollte, dann hatte sie versagt. Die Menschen waren »verderbter als zuvor«, sie waren habgieriger, raffsüchtiger, schamloser und feindseliger, und dies war nirgendwo deutlicher als in der Kirche selbst. Klemens VI., selber alles andere als ein Mann der Frömmigkeit, war immerhin von der Pest erschüttert genug, sich in einem Wutausbruch gegen seine Prälaten zu wenden, als die ihn 1351 wieder einmal baten, die Bettelorden zu verbieten. Und wenn er es täte, antwortete der Papst, »was könnt ihr den Menschen predigen? Demut? Ihr seid der Stolz selbst, aufgeblasen, pompös und verschwenderisch. Armut? Ihr seid so habgierig, daß alle Reichtümer der Welt euch nicht zufriedenstellen könnten. Keuschheit? Davon wollen wir schweigen, denn Gott weiß, was jeder von euch tut und wie viele von euch ihre Lust befriedigen.« Mit dieser traurigen Meinung von seinen »Brüdern im Herrn« starb das Oberhaupt der Kirche ein Jahr später.
»Wenn die, die den Ehrentitel Hirte tragen, die Rolle der Wölfe spielen«, sagte Lothar von Sachsen, »wächst die Ketzerei im Garten
der Kirche.« Wenn auch die meisten Menschen weiter im alten Trott dahinlebten, so gab die wachsende Unzufriedenheit mit der Kirche doch der Ketzerei und dem Sektenwesen Auftrieb. Viele begannen, Gott bei den mystischen Sekten und in all den Reformbewegungen zu suchen, die letztlich das Reich der katholischen Einheit auseinanderbrechen sollten.
Die Überlebenden der Pest, die sich selbst weder vernichtet noch moralisch verbessert wiederfanden, konnten keinen göttlichen Zweck in den Leiden, die sie durchgemacht
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