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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
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Sie verurteilten nicht nur die Arbeiter, die um höhere Löhne nachsuchten, sondern vor allem die, »die lieber in Muße betteln, als ihr Brot mit Arbeit zu verdienen«. Die Untätigkeit des Arbeiters wurde als Verbrechen gegen die Gesellschaft angesehen, denn das mittelalterliche System basierte auf seiner Verpflichtung zur Arbeit. So waren die »Arbeiterstatuten« nicht einfach ein reaktionärer Traum, sondern ein Versuch, das System aufrechtzuerhalten. Sie sahen vor, daß jeder Gesunde unter sechzig Jahren und ohne ausreichendes eigenes Einkommen für jeden, der ihn benötigte, zu arbeiten hatte, daß keine Almosen an arbeitsfähige Bettler verteilt werden durften und daß jeder umherziehende Leibeigene zur Arbeit für denjenigen gezwungen war, der ihn beanspruchte. Diese Gesetzgebung der »Arbeiterstatuten« diente bis ins 20. Jahrhundert hinein als Grundlage für die »Konspirations«-Gesetze gegen die Arbeiterschaft in dem langen Kampf um die gewerkschaftliche Organisation.
    Ein realistischeres Statut in Frankreich begrenzte den Anstieg der Löhne auf 30 Prozent. Die Preise wurden eingefroren und die Profite der Zwischenhändler reguliert. Um die Produktion zu erhöhen, wurden die Gilden angewiesen, ihre Beschränkungen für die Lehrlingsausbildung zu lockern und die Ausbildungszeit bis zur Meisterprüfung zu verkürzen.
    Wie wiederholte Neufassungen dieser Gesetze zeigen, waren sie
in beiden Ländern trotz ständig erhöhter Strafen nicht durchzusetzen. Das englische Parlament zitierte 1352 Gesetzesübertretungen, nach denen Arbeiter Löhne forderten und auch bekamen, die um das Zwei- bis Dreifache über den Vor-Pest-Löhnen lagen. Widerspenstige Arbeiter kamen in den Fußblock. Geldstrafen wurden 1360 durch Gefängnisstrafen ersetzt und flüchtige Arbeiter zu Vogelfreien erklärt. Wenn man sie fangen konnte, sollten ihnen auf der Stirn ein F für »flüchtig« (möglicherweise auch für »Falschheit«) eingebrannt werden. Zweimal noch wurden 1360 neue Gesetze verabschiedet, die den Widerstand verstärkten, der sich in dem großen Ausbruch von 1381 entlud.
     
    Das weitverbreitete Gefühl der Sündhaftigkeit, das die Pest hervorgerufen hatte, wurde durch eine Generalabsolution erleichtert, die das Jubiläumsjahr 1350 all denjenigen bot, die eine Pilgerfahrt nach Rom unternahmen. Das Jubiläum war ursprünglich von Bonifatius VIII. im Jahre 1300 begründet worden und sollte allen reumütigen Sündern, die die Beichte abgelegt hatten, ohne weitere Buße die Lossprechung von ihren Sünden erteilen – das heißt, wenn sie eine Reise nach Rom bestreiten konnten. Bonifatius hatte das Jubiläumsjahr als ein hundertjähriges Ereignis vorgesehen, aber das erste hatte einen so überwältigenden Erfolg gehabt – im Laufe des Jahres sollen in Rom 2 Millionen Besucher gezählt worden sein –, daß die Stadt, verarmt durch die Verlegung des Papsthofes nach Avignon, Papst Klemens VI. bat, die Intervalle auf fünfzig Jahre zu verkürzen. Der Papst der schönen Wandteppiche handelte nach dem menschenfreundlichen Prinzip, »daß ein Priester seine Untertanen glücklich machen soll«. Er entsprach Roms Bitte in einer Bulle des Jahres 1343. [Ref 107]
    In derselben für die Kirche bedeutenden Bulle formulierte Klemens VI. die Theorie des Sündenerlasses und legte dessen fatale Gleichsetzung mit Geld fest. Das Blutopfer Christi, so führte er aus, zusammen mit dem gesammelten Verdienst, das die Jungfrau und die Heiligen erworben hatten, war zu einem unerschöpflichen Schatz an Vergebung geworden. Indem die Gläubigen nun bestimmte Summen an die Kirche bezahlten, konnten sie einen Anteil an diesem Schatz des Verdienstes erwerben. Was die Kirche an
Einkommen durch diese Konstruktion gewann, verlor sie schließlich durch den Verfall ihres Ansehens wieder.
    Im Jahre 1350 füllten Pilger die Straßen nach Rom. Sie kampierten in der Nacht um offene Feuer. Täglich sollen fünftausend Menschen die Stadt verlassen oder betreten haben. Sie brachten Geld in die Kassen der Haushalte, die ihnen Unterkunft und Verpflegung boten. Ohne ihren Pontifex maximus war die Ewige Stadt mittellos. Die drei Hauptbasiliken lagen in Ruinen, San Paolo war durch das Erdbeben umgestürzt, der Lateranpalast war halb verfallen. Unrat und Trümmer füllten die Straßen, die sieben Hügel lagen still und verlassen da, Ziegen fraßen das Unkraut in den Höfen verlassener Konvente. Der Anblick von abgedeckten Kirchen, dem Regen und Wind schutzlos ausgesetzt,

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