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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
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hatten, entdecken. Gottes Absichten waren immer geheimnisvoll gewesen, aber diese Geißel war zu grauenhaft, als daß sie hätte ohne Fragen akzeptiert werden können. Wenn ein derartiges Unheil, das tödlichste, das die Menschheit kannte, nur göttliche Willkür oder vielleicht überhaupt nicht Gottes Werk war, dann war die Welt in ihren Grundfesten erschüttert. Die Geister, die sich diesen kritischen Fragen öffneten, konnten nie mehr zum Verstummen gebracht werden. Wenn die Menschen sich erst einmal die Möglichkeit der Veränderung in einer festen Ordnung vorstellen konnten, war auch das Ende eines Zeitalters bedingungsloser Unterwerfung in Sicht; die Wendung zum individuellen Bewußtsein stand vor der Tür. Insofern mag der Schwarze Tod der unerkannte Geburtshelfer des modernen Menschen gewesen sein.
    Zunächst hinterließ er Vorahnungen, Spannungen und Düsterkeit. Er beschleunigte den Austausch von ländlichen Arbeitskräften und begann so, alte Bande zu lösen. Er vertiefte die Kluft zwischen Armen und Reichen und steigerte die gesellschaftlichen Gegensätze. Solche großen und qualvollen Erschütterungen sind nur zu ertragen, wenn sich an ihrem Ende eine bessere Welt abzeichnet. Wenn dies nicht der Fall ist wie nach jener anderen großen Katastrophe von 1914/18, ist die Desillusionierung tief, und die Menschen verfallen dem Selbstzweifel und der Selbstverachtung. Der Schwarze Tod erzeugte eine ähnliche existentielle Hoffnungslosigkeit wie der Erste Weltkrieg, obwohl es im Mittelalter fünfzig Jahre dauerte, bis sich die psychischen Nachwirkungen voll entwickelten. Dies waren die rund fünfzig Jahre der Jugend und des Erwachsenenlebens von Enguerrand de Coucy VII.

    Aus den Pestjahren ging auch jene seltsame Darstellung des Todes hervor, die sich in den Wandmalereien des Campo Santo von Pisa fand. Die Gestalt ist nicht der übliche Knochenmann, sondern eine schwarzgekleidete alte Frau mit wehenden Haaren und wilden Augen, die eine breitschneidige mörderische Sichel in Händen trägt. An ihren Füßen hat sie Krallen statt der Zehen. Das Wandgemälde stellt den Triumph des Todes dar und wurde 1350 von Francesco Traini als Teil einer Serie gemalt, die Darstellungen des Jüngsten Gerichts und der Höllenqualen einschloß. Eine thematisch ähnliche Arbeit, die zur selben Zeit von Trainis Meister Andrea Orcagna in der Kirche Santa Croce in Florenz gemalt wurde, ging bis auf Fragmente verloren. Zusammen deuten die beiden Gemälde auf den Beginn einer intensiven und allgegenwärtigen Beschäftigung mit dem Tod hin: Noch ist sie nicht der Kult, zu dem sie bis zum Ende des Jahrhunderts werden sollte, aber dessen Anfang.
    Gewöhnlich wurde der Tod als Skelett mit Stundenglas und Sense dargestellt, das in ein weißes Leichentuch gehüllt oder in nackter Knochigkeit über die Ironie des menschlichen Schicksals grinst, deren Symbol es ist: Alle Menschen vom Bettler zum Kaiser, von der Dirne zur Königin, vom zerlumpten Mönch zum Papst müssen zu Asche werden. Egal wie arm oder mächtig, alles ist eitel vor dem Gleichmacher Tod. Das Vergängliche ist nichts; was zählt, ist das Leben der Seele nach dem Tod.
    In Trainis Fresko stößt der Tod durch die Luft auf eine Gruppe sorgloser, junger und schöner Edelleute und Damen herab, die sich wie Modelle von Boccaccios Märchenerzählern in einem Orangenhain mit Büchern und Musik vergnügen. Eine Schriftrolle warnt, daß »weder Weisheit noch Reichtum noch Adel noch Tapferkeit« sie vor den Schlägen des Todes schützen kann. »Sie haben sich mehr an den weltlichen als den göttlichen Dingen erfreut.« In einem Berg von Leichen in der Nähe liegen gekrönte Häupter, ein Papst mit der Tiara, ein Ritter zusammen mit den Körpern der Armen, während Engel und Teufel am Himmel um die kleinen nackten Figuren, die ihre Seelen darstellen, kämpfen. Eine elende Gruppe von Leprakranken, Bettlern und Krüppeln mit einem, dem die Nase weggefressen ist, anderen ohne Beine oder blind, einem,
der seinen Armstumpf anstelle der Hand flehend erhebt, bittet den Tod um Erlösung. Auf einem Berg sieht man Eremiten, die ein beschauliches religiöses Leben führen; sie erwarten den Tod in Frieden.
    Darunter trifft in einer Szene ungewöhnlicher Kraft eine berittene Jagdgesellschaft von Fürsten und eleganten Damen mit plötzlichem Schrecken auf drei offene Särge mit Leichen in den unterschiedlichen Stadien der Verwesung. Eine ist noch bekleidet, eine halb verfallen, eine schon ein Skelett.

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