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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
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Schlangen kriechen über die Gebeine. Diese Szene illustriert »Die drei Lebenden und die drei Toten«, eine Legende des 13. Jahrhunderts, in der drei verwesende Leichen drei Edelleuten warnend zurufen: »Was ihr seid, waren wir. Was wir sind, werdet ihr sein.« In Trainis Fresko bleibt ein Pferd, den Gestank in den geblähten Nüstern, mit gestrecktem Hals steif stehen, und der Reiter preßt sich ein Tuch gegen die Nase. Die Jagdhunde weichen verschreckt knurrend zurück.
    Die Gruppe von lebenslustigen schönen Männern und Frauen in ihren Seidenkleidern, Locken und modischen Hüten starrt entsetzt auf das, was auch aus ihnen einmal werden wird.

KAPITEL 6
Die Schlacht von Poitiers
    K aum der Pest entkommen, stürzte sich Frankreich in ein militärisches Debakel, das mit seiner Vielzahl zerstörerischer Folgeerscheinungen einen bestimmenden Einfluß auch auf das Leben Enguerrands de Coucy haben sollte. Den äußeren Anlaß dafür bot England, aber der wirkliche Grund lag in der unbändigen Selbstherrlichkeit der Fürstenschicht, von der sich ein König leiten ließ, der ein Genie des politischen Ungeschicks war.
    Johann II., der seinem Vater König Philipp VI. im August 1350 auf den Thron folgte, hätte Machiavelli als Vorbild für seinen Antifürsten dienen können. Unpolitisch und ungestüm, ohne Weisheit und Glück in seinen Entscheidungen war er offensichtlich unfähig, die Folgen seiner Handlungen im voraus abzuschätzen. Obwohl er im Kampf selbst tapfer war, konnte man ihn keinesfalls einen großen Feldherrn nennen. Ohne böse Absicht trieb er den Vertrauensschwund in seine Person bis zur Revolte und verlor sein halbes Königreich, geriet selbst in Gefangenschaft und ließ Frankreich führungslos in seiner dunkelsten Stunde dieses Zeitalters zurück. Mit überraschender Milde hatten ihm seine Untertanen den Namen Jean le Bon (Johann der Gute) gegeben, wohl eher um seine Naivität und Sorglosigkeit zum Ausdruck zu bringen als seine Güte. Vielleicht bezogen sie sich aber auch auf seine Ritterlichkeit und Großzügigkeit den Armen gegenüber. Er soll einmal einem Dienstmädchen, dem die königlichen Jagdhunde die Milchkrüge umgestoßen hatten, seine Geldbörse geschenkt haben. Er bestieg den Thron mit der erklärten Absicht, die Niederlagen seines Vaters im vorausgehenden Jahrzehnt wettzumachen.
    Schon am ersten Tag seiner Herrschaft forderte er die mächtigsten
Fürsten seines Reiches auf, sich für seinen Ruf bereitzuhalten, »wenn die Zeit kommen sollte«. Der Waffenstillstand nach dem Fall von Calais, der während der Pestzeit erneuert worden war, lief im April 1351 aus. Da Johann aber eine leere Schatzkammer hatte, konnte er keine Armee unter Sold halten und mußte so erst einmal seine Finanzen sanieren. Ihm war nicht verborgen geblieben, daß Frankreich aus den Fehlern von Crécy und Calais lernen mußte, und so bemühte er sich eifrig um bestimmte Ideen zur militärischen Reform.
    Drei Monate nach seiner Thronbesteigung war seine erste Amtshandlung jedoch, den Constable von Frankreich, den Grafen von Eu und sechzehnten Grafen von Guînes, einen Vetter von Enguerrand VII., hinrichten zu lassen. Der Graf war ein einflußreicher Mann und »so höflich und liebenswert in jeder Hinsicht, daß er von großen Herren, Rittern, Damen und Jungfrauen geliebt und bewundert wurde«. Nachdem der Graf von Eu aber 1345 bei Caen von den Engländern gefangengenommen worden war, war er nicht in der Lage gewesen, das Lösegeld aufzubringen, das König Eduard festgesetzt hatte. Das war nicht verwunderlich, denn Eduard hielt sich bei wichtigen Geiseln nicht an das Prinzip des Rittertums, daß ein Lösegeld nicht so hoch angesetzt werden durfte, daß es den Ritter ruinierte oder ein Jahreseinkommen überschritt. Nach vierjähriger Gefangenschaft hatte der Graf von Eu nun seine Freiheit zurückgewonnen, angeblich um den Preis, dem englischen König die strategisch wichtige Burg und Grafschaft von Guînes in der Nähe von Calais abzutreten. Aufgrund dieses Verdachts ließ Johann ihn nach seiner Rückkehr ohne Verhandlung enthaupten. Schweigend hatte der König den Fürbitten der Freunde des Grafen zugehört und als Antwort geschworen, »nicht wieder zu schlafen, solange der Graf von Guînes lebt«. Einer anderen Version zufolge soll der König unter Tränen geantwortet haben: »Ihr sollt seinen Körper haben und ich seinen Kopf.« [Ref 110]
    Johann hätte sich den französischen Adel kaum gründlicher entfremden können als

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