Der fernste Ort
Ungeduld seinen Weg durch eine winterliche Landschaft sucht. Doch während er geht, fühlt er die Luft um sich zu Ölfarbe gerinnen, und er sieht die Berge und den Himmel und vielleicht die Küstenlinie eines fernen Meeres in ein Gemälde erstarren, von dem er selbst nur ein leicht zu übersehender Teil ist, und plötzlich begreift er, und damit erst hat sein Weg sich geschlossen. Und antworten Sie mir bitte nicht mit einem Verweis auf die Unerbittlichkeit der Zeit, diese ist verformbarer, als Ihre wirrsten Träume es demonstrieren könnten. Ich werde das zu gegebener Zeit ausführen, im übrigen viel Glück, mögen Ihre Beschwerden sich auflösen wie ein Irrtum. Ich verbleibe mit allen Grußformeln … Julian schloß das Buch. Er legte sich hin und faltete die Hände im Nacken, das Bett ächzte unter seinem Gewicht. Nebenan fiel etwas zu Boden, offenbar war seine Mutter wieder wach. Durch das Weiß der Decke zog sich ein kompliziert verästelter Riß,der ihm noch nie aufgefallen war. Und während er ihn betrachtete, aufmerksam, als ließe sich aus seinem Verlauf etwas Wichtiges lesen, schien er zu einem anderen Riß an einer anderen Decke zu werden, in einem Raum mit einem Bücherbord und der Reproduktion einer Seekarte an der Wand; und er rührte sich nicht und wartete auf den Schlaf, der seit Stunden nicht kam und noch stundenlang nicht kommen würde, und plötzlich fühlte er sich so stark in jenes andere Zimmer zurückversetzt, in die schon ferne Nacht, in der ihm klar geworden war, daß alles sich ändern würde, daß ihm der Atem stockte.
Er zog die Hände unter dem Nacken hervor, sie waren taub und gefühllos geworden; er schüttelte sie, bis das Blut kribbelnd zurückkehrte. Es kam immer wieder vor, daß er träumte, keinen Schlaf zu finden; diesmal hatte er sich sogar eingebildet zu lesen, aber er wußte nicht mehr, was es gewesen war. Er wußte, daß er in dieser Nacht nicht mehr einschlafen würde. Wie lange war es nun her, seit das Kind gestorben war?
Im Grunde war es nicht einmal gestorben, es hatte das stumme und in sich selbst eingeschlossene Dasein eines Dinges geführt bis zu dem Abend,als ihn der Anruf einer atemlosen Krankenschwester in die Klinik geholt hatte, auf einen weißen und kahlen Gang, auf dem er alleine stand und wartete und sich dafür schämte, daß er weder Angst noch Aufregung empfand, nur Müdigkeit und ein wenig Langeweile. Hin und wieder öffnete und schloß sich die Tür, ein Arzt ging hinein oder kam heraus, sehr schnell und mit einem konzentrierten Gesichtsausdruck, der ihm zeigen sollte, daß jetzt nicht der Zeitpunkt war, Fragen zu stellen; am liebsten hätte er ihnen allen gesagt, daß sie sich keine Sorgen zu machen brauchten, daß er nichts fragen wollte, daß er sich nicht einmischen würde und gelassener war, als es in so einem Moment gestattet war. Er versuchte, sich den Tod dieses fremden Wesens vorzustellen, vielleicht noch ausgestattet mit Schwimmhäuten und Kiemen, eher Chimäre als Mensch, das von seinem Blut, von seiner Art sein sollte. Wie es noch atmete, wie sein Herz gerade noch schlug und jetzt schon langsamer wurde und gleich stocken würde; wenn es nur, dachte er, keinen Schmerz dabei empfand, wenn es ein Stadium des Daseins gäbe, das zu früh wäre für Schmerz, aber er wußte, das gab es nicht. Das Stehen strengte ihn an, er lehnte den Kopf andie frisch gekalkte Wand, er hätte sich gern auf den Boden gesetzt, aber aus irgendeinem Grund hatte er das Gefühl, daß er das nicht durfte, nicht jetzt. Über ihm flackerte eine defekte Leuchtröhre, er blickte auf, und für einen Moment fühlte er sich von dem Anblick hypnotisiert, eine weiche Trägheit legte sich auf ihn, und später, als er schon an ihrem Bett stand und auf ihr feuchtes Gesicht, ihre strähnigen Haare, ihre geschlossenen Lider hinunter sah, war er froh, daß niemand ihn fragte, ob er das Kind sehen wollte; die Vorstellung des leblosen Gnomenwesens machte ihm angst. Er sah sie an und fühlte einen Stich von hilflosem Mitleid; er wollte ihr irgend etwas sagen, etwas Einfaches und Klares. Aber dann war er doch erleichtert, daß sie ihn nicht hören konnte, daß er nach Hause gehen durfte und daß alles an ihm vorbeigegangen war wie ein Spuk.
Natürlich zog er trotzdem in die neue Wohnung. Er hatte jetzt ein Büro in der Universität, er war in der Mitte seiner Monographie über Vetering und konnte nicht mehr zurück. »Sie sollten nicht zu lange brauchen«, sagte Kronensäuler, »sonst kann
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