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Der Feuerstein

Der Feuerstein

Titel: Der Feuerstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rae Carson
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mit erstickter Stimme hervor. »Wieso nicht?«
    Ich antworte in der Lengua Classica. »Weil es nicht Gottes Wille ist.«
    Er reißt die blauen Augen auf, öffnet den Mund, aber es ist kein Ton zu hören. Dann fällt er nach hinten und bleibt liegen, mit dem Kopf am Sockel des Altars, sodass sein Ohr die Blätter der verdorrenden Duermapflanze berührt.
    »Danke, Gott«, hauche ich. »Vielen Dank.«
    Als ich ihm die Hand auf den Brustkorb lege, fühle ich einen leisen Puls unter den Rippen, schwach, aber deutlich spürbar. Vielleicht verlieren die Duermabeeren in getrocknetem Zustand ihre Wirksamkeit. Aber falls meine eigene Erfahrung mit dieser Droge halbwegs verlässlich ist, dann wird er ziemlich lange schlafen.
    Mit meinem Messer schneide ich einen Streifen Stoff vom Saum meines Gewands und verbinde mir damit den blutenden Unterarm.
    Unerklärlicherweise bin ich noch am Leben. Es muss eine Möglichkeit zur Flucht geben, eine Möglichkeit, die anderen zu warnen, denn ich habe viel herausgefunden. Die Animagi können die Muskeln anderer Menschen mit einem Fingerschnippen erstarren lassen. Sie bewaffnen sich mit Gottessteinen. Sie haben einen Weg gefunden, Feuer zu erzeugen, indem sie »die Erde Blut trinken lassen«. Meine winzige Kinderarmee, meine Malficio, müssen davon erfahren.
    Also rolle ich mich zusammen, die Beine an die Brust gedrückt, und denke nach.
    So angezogen, wie ich bin, werde ich nie aus dem Lager herauskommen. Ich muss mich verkleiden. Die weiß gebleichten
Oberkleider des Animagus leuchten zu mir herüber, und beinahe muss ich angesichts dieser Idee laut lachen. Ich könnte sein Gewand nehmen. Sein Amulett.
    Es ekelt mich, seinen Kopf zu berühren. Sein weißblondes Haar gleitet über meine Handfläche, als ich das Lederband mit dem kleinen Käfig über seinen Kopf ziehe. Dann lege ich es selbst an, und der Feuerstein in meinem Nabel zuckt ganz leicht, als wollte er seinesgleichen freudig begrüßen. »Lass das«, murmele ich halblaut.
    Den Animagus aus seinen Kleidern herauszubekommen, erweist sich als schwieriger als erwartet. Er ist zwar sehr schlank, aber trotzdem schwer. Also rolle ich ihn von einer Seite zur anderen, befreie erst einen Arm, dann den anderen, dann drehe ich ihn auf den Bauch. Ohne seine Gewänder wirkt er zerbrechlich; seine blauen Adern breiten sich unter der blassen Haut wie ein Spinnennetz aus. Sein langer Zopf glänzt wie flüssiges Gold im Kerzenlicht. Zorn ergreift mich noch einmal, und unwillkürlich fasse ich zu und schneide ihm das Haar mit meinem Messer im Nacken ab.
    Der Weihrauchgeruch kratzt so im Hals, dass ich beinahe würgen muss, während ich mir sein Gewand über die Schultern ziehe. Es ist aus einer Tierhaut, wie ich sie noch nie zuvor gesehen habe, dick und schwer, aber nachgiebig und anschmiegsam wie fein gesponnene Seide. Ich binde es am Hals zu und ziehe das Amulett so hervor, dass der dunkle Käfig sich gut von dem weißen Leder abhebt. Die Kapuze umhüllt meinen Kopf. Dann schiebe ich mir das abgeschnittene Ende des Zopfes in den Nacken und lasse die Spitze über meine Brust herabhängen. Unter dem Gewand halte ich mein Messer fest umklammert.

    Der Animagus liegt noch immer ausgestreckt vor mir. So zierlich. So schön. Irgendwann wird er aufwachen. Vielleicht sollte ich ihm doch jetzt, während er schläft, das Messer ins Herz stoßen, damit er nie wieder erwacht, um Leute zu verbrennen. Aber der Gedanke daran, noch einmal jemanden auf diese Weise zu töten, widert mich an.
    Ich habe eine bessere Idee.
    Seine Lagerstatt ist am Rand des Zelts ausgebreitet. Ich packe sie an einer Ecke und ziehe sie weiter in die Mitte; die Wolle ist weich und sehr trocken. Vorsichtig nehme ich eine Kerze vom Altar und halte sie aufrecht, damit mir das heiße Wachs nicht über die Finger schwappt. Dann hebe ich den Rand eines Schaffells an die Flamme, bis es Feuer fängt. Während die Wolle schwarz wird und verschmort, drehe ich den Kopf zur Seite, um dem beißenden Geruch zu entgehen. Es brennt langsam. Es wird einige Minuten dauern, bevor das Feuer die Zeltwände erreicht. Genug Zeit, um aus dem Lager herauszukommen. Über den Mann, der zu meinen Füßen liegt, will ich nicht nachdenken.
    Ich bin bereit, aber ich kann meine Füße nicht dazu bringen, zur Zelttür hinüberzugehen. Bitte, Gott, lass diesen Plan gelingen. Ich muss selbstbewusst durchs Lager schreiten. Elegant. Mit gesenktem Kopf, damit niemand die dunkle Farbe meiner Haut bemerkt. Nach einem tiefen

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