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Der Finger Gottes

Der Finger Gottes

Titel: Der Finger Gottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Franz
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Bildern in die Höhe, überall Hocker, kleine Tische und Teppiche in gräßlichen trüben, aber auch aufdringlichen Farben, die Tapetenmuster waren altmodischer, an das vorige Jahrhundert erinnernder Kitsch.
    Brackmann stand einen Augenblick vor der Tür und legte sich Fragen zurecht. Er klopfte. Keine Antwort. Kein »Herein«. Er klopfte ein weiteres Mal, ein leises Räuspern von drinnen, schließlich, nach dem dritten Klopfen, ein zaghaftes »Ja«.
    Brackmann drückte die Klinke. Das Zimmer war groß und so gar nicht wie das Zimmer eines Siebzehnjährigen eingerichtet. Auch hier dominierten dunkle Töne, vom Bodenbelag über die Möbel bis hin zu den Bildern an der Wand. Nirgends der Hinweis auf etwas, das einen Jugendlichen normalerweise interessierte. Nathanael Phillips kauerte auf seinem Bett, die Knie angezogen, die Arme darumgeschlungen, die großen dunklen Augen ängstlich auf Brackmann gerichtet.
    »Hallo, Nathan.« Brackmann schloß die Tür. Weder die Musikanlage noch der Fernsehapparat liefen. Kein Krümel auf dem Boden, kein Staubkorn auf den Möbeln, keine Süßigkeiten, nichts zu trinken, dieses Zimmer war so steril, als hätte Maria Olsen hier saubergemacht. Das einzige Geräusch drang durch das einen Spaltbreit geöffnete Fenster, Vogelgezwitscher aus der Eiche davor.
    »Was wollen Sie?« flüsterte er, steckte die Nase zwischen die Knie, verbarg seinen Blick.
    »Darf ich mich setzen?« Brackmann, der eben noch mit aller Härte hatte vorgehen wollen, schaffte es plötzlich nicht mehr. Dieser Junge schien aus feinstem Glas zu bestehen, so fragil, daß es bei der geringsten Berührung in Tausende kleiner Stücke zerbrechen würde. Er würde, entgegen seiner Vorsätze, behutsam mit ihm umgehen müssen, ihn nicht anschreien, nicht beschuldigen, ihn nur befragen.
    »Du kannst dir denken, warum ich gekommen bin?«
    Nathanaels Ohren glühten, er versteckte sein Gesicht noch tiefer zwischen den Knien. »Nein, warum?«
    »Nun, laß es mich so formulieren. Heute nacht erlebte Waldstein die schlimmste und verheerendste Naturkatastrophe seiner Geschichte. Nie zuvor hat es ein solches Unwetter hier gegeben. Unsere und somit auch deine Stadt ist an vielen Stellen quasi dem Erdboden gleichgemacht worden, und . . .«
    »Es ist nicht meine Stadt! Es ist vielleicht die Stadt meines Vaters oder meiner Mutter oder der Vandenbergs, aber es ist nicht meine Stadt!« Bitterkeit und Aufsässigkeit.
    »Gut, du sagst, es ist nicht deine Stadt. Aber du bist hier geboren und aufgewachsen. Vielleicht ist es doch ein wenig deine Stadt?«
    »Nein.« Nathanael veränderte seine Körperhaltung nicht.
    »Laß mich fortfahren. Du weißt, daß hier bei uns so gut wie nie ein Verbrechen geschieht. Genaugenommen ist, solange ich hier Polizist bin, nie etwas wirklich Erwähnenswertes passiert, höchstens mal ein harmloser Einbruch oder ein paar Betrunkene, die randaliert haben, aber das sind Lappalien. Jetzt ist gestern abend aber etwas geschehen, das schlimmer ist als alles vorher Dagewesene. Hast du zufällig eine Ahnung, wovon ich sprechen könnte?«
    »Nein.«
    »Wirklich nicht?«
    Nathan schüttelte den Kopf, ohne Brackmann anzuschauen. »Dann werde ich es dir sagen. Gestern nacht, so gegen elf, also kurz vor dem Unwetter, hat jemand etwas getan, das für eine junge Frau schrecklicher war als dieser Tornado. Diese junge Frau ist nämlich in ihrer Wohnung überfallen und vergewaltigt worden. Der Mann hat sie in ihrer Wohnung dazu gezwungen, mit ihm sexuell zu verkehren. Was meinst du dazu?«
    Schulterzucken.
    »Findest du das nicht genauso schrecklich wie ich?«
    »Denke schon.«
    »Nehmen wir einmal an, du hättest so etwas getan, was würdest du dann als gerechte Strafe ansehen?«
    »Weiß nicht.«
    »Es würde mich ganz einfach nur von dir als Heranwachsendem interessieren, wie so jemand bestraft werden sollte. Ich meine, wir wissen inzwischen, daß es sich bei dem Täter um jemanden in deinem Alter gehandelt haben muß. Wie ist also deine Meinung dazu?«
    »Weiß nicht.«
    »Sollte er ins Gefängnis gesteckt werden? Oder ausgepeitscht? Oder sollte man ihm die Eier abschneiden? Oder was sonst?«
    »Weiß nicht, ins Gefängnis vielleicht. Ist mir auch egal.«
    »Ich hab noch gar nicht erwähnt, wer vergewaltigt worden ist, oder?«
    Schulterzucken.
    »Interessiert es dich denn gar nicht?«
    Schulterzucken.
    »Sie heißt Angela Siebeck. Sie arbeitet in der Bücherei. Eine sehr hübsche und vor allem sehr nette Frau, findest du

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