Der Finger Gottes
nicht?«
Schulterzucken.
»Wo warst du eigentlich gestern abend?«
»Ich hab geschlafen oder so.«
»Oder so?«
»Weiß nicht.« Nathanael hob jetzt zum ersten Mal, seit Brackmann eingetreten war, sein Gesicht. Brackmann betrachtete ihn. Seine Wangen, das Kinn und die Stirn waren pickelübersät. Die Lippen wulstig und dunkelrot. Das Haar schwarz und kraus. Doch die Haut war weiß, ein blasses, gräuliches, ungesundes Weiß, wie bei jemandem, der nur selten sein Zimmer verläßt. Wie bei jemandem, der keine Freunde hat, mit denen er Ausflüge unternimmt oder die ihn nach Nürnberg oder Hof in die Disko mitnehmen.
Große dunkle Augen hinter einer dunkel umrahmten viereckigen Brille. Traurige, einsame Augen.
»Kannst du beweisen, daß du allein auf deinem Zimmer warst und geschlafen hast? Hat dich irgend jemand hier gesehen?«
Schulterzucken.
»Keiner hat dich gesehen?«
Wieder Schulterzucken. Er vergrub erneut sein Gesicht zwischen den Knien, murmelte kaum verständlich: »Sie sehen ja nie nach mir! Ihnen ist sowieso egal, was ich den ganzen Tag mache! Ich war ihnen immer egal!«
»Meinst du damit deine Eltern?«
»Wen denn sonst?!«
Brackmann hielt kurz inne, fragte dann: »Du hast Frau Siebeck vergewaltigt, hab ich recht?«
Nathanael wandte seinen Kopf zum Fenster hin, vor dem schwere Gardinen hingen, die viel von dem einfallenden Licht schluckten. Neben dem Fenster klebten drei Bilder längst verstorbener oder sehr alter Filmschauspieler, als hätte dieses Zimmer vor dem Jungen dessen Mutter oder Großmutter bewohnt. Kein Bild eines Rockstars, einer jungen Schauspielerin, nichts von dem, womit Siebzehnjährige normalerweise ihr Zimmer ausstaffierten.
»Kennst du Frau Siebeck denn?«
»Kann schon sein«, sagte er.
»Hast du es getan?«
Schweigen.
Brackmann wiederholte die Frage: »Hast du es getan?« Schweigen.
»Nathanael, ich frage dich zum letzten Mal – hast du gestern nacht Frau Angela Siebeck in ihrer Wohnung überfallen und vergewaltigt?«
Nathanael nickte fast unmerklich, fiel in sich zusammen. Er weinte leise, sein Körper bebte, Speichel lief aus seinenMundwinkeln, tropfte auf die Brust. Brackmann ging zu dem Jungen, legte einen Arm um seine Schultern.
»Du weißt, daß ich dich jetzt mitnehmen muß.«
»Ich habe es doch gar nicht gewollt! Nicht wirklich. Ich weiß nicht, wie es passieren konnte!« sagte er kaum hörbar, dicke Tränen liefen über seine Wangen. »Ich habe mich betrunken . . .«
»Ich weiß, Frau Siebeck hat es mir gesagt . . . Wir werden jetzt in mein Büro fahren. Dort nehmen wir ein Protokoll auf. Ich werde dir natürlich nicht ersparen können, Frau Siebeck gegenübergestellt zu werden. Mein Gott, Junge, warum hast du das bloß gemacht? Du bist doch keiner von diesen Rowdies, von denen man immer wieder hört oder liest, die Schlägereien anzetteln und denen ein Menschenleben nichts oder zumindest nur wenig bedeutet. Ich habe viele von ihnen in Frankfurt gesehen, und ich würde dich nie mit ihnen vergleichen. Und trotzdem hast du einem Menschen sehr weh getan. Ich meine, es gibt doch andere Möglichkeiten, ich meine . . .«
»Die andern haben alle schon längst was mit Mädchen! Ich werde aber nie eine finden! Jetzt erst recht nicht mehr.«
»Wieso glaubst du, du wirst kein Mädchen finden?«
»Weil sie es sagen.«
»Wer sagt es?«
»Die da unten . . . und überhaupt alle. Sie sagen, ich bin viel zu häßlich.«
»Das haben dein Vater und deine Mutter gesagt?«
»Nicht direkt, aber ich habe immer gewußt, daß sie so denken.«
»Jeder Mensch findet irgendwann einen Partner, wenn er möchte. Aber so, wie du es gemacht hast, war es natürlich der denkbar schlechteste und ungeschickteste Weg. Und noch was – auch wenn deine Schulkameraden behaupten, sie hätten alle schon was mit Mädchen gehabt, so solltest duauf ein solches Geschwätz nicht allzuviel geben. In dem Alter spinnt man gerne rum. Jeder möchte dem andern beweisen, was für ein toller Hecht er ist, in Wirklichkeit ist das alles nur heiße Luft. Das war zu meiner Zeit so und ist heute nicht viel anders. Aber komm jetzt, wir werden es deinen Eltern sagen müssen.«
Schwerfällig, ein alter, gebrochener Mann von gerade erst siebzehn Jahren, kroch Nathan von seinem Bett. Die schmalen Schultern hingen leicht nach vorn, über seine langen dünnen Beine hatte er eine schwarze Hose gestreift, die mindestens zwei Nummern zu groß war und mit einem breiten Gürtel zusammengehalten wurde. Nathanael war
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