Der Finger Gottes
Brackmann ging an das schmale Bücherregal,holte ein Buch, das er noch nie gelesen hatte, die Bibel, hervor, zog den Brief heraus und reichte ihn dem Mann. Der öffnete den Umschlag und überprüfte den Inhalt. Dann nickte er und bedeutete seinem Partner mit einem Zeichen, zu gehen. An der Tür wandte der Kleinere der beiden sich noch einmal um und sagte in gefährlich friedlichem Tonfall: »Legen Sie sich nie wieder mit uns an. Herr Vandenberg ist nicht immer so großzügig.«
Dann verschwanden sie, ohne die Tür zu schließen. Brackmann setzte sich auf das ungemachte Bett, legte den Kopf in die Hände. Hörte das Zuschlagen der Autotüren, das Starten des Motors, das Gasgeben.
Nach einer Weile holte er den Scheck aus seiner Brusttasche und betrachtete ihn. Hunderttausend Mark! Und das Geld gehörte ihm! Er war müde und abgespannt. Die Tabletten und der Alkohol zeigten Wirkung. Ihm war schwindlig und etwas übel.
Der Schmerz in seinen Schläfen nahm zu, mit den Spitzen seiner Zeigefinger massierte er die schmerzenden Stellen. Er schloß die Augen, horchte in sich hinein, atmete tief ein und wieder aus, redete sich gut zu, ruhig zu bleiben, nicht in Panik zu geraten. Er streifte die Schuhe ab, ließ sich rückwärts aufs Bett fallen. Er schlief sofort ein.
Nach einer kurzen Nacht wachte er um kurz vor sechs mit heftigen Kopfschmerzen auf. Die Übelkeit erwachte mit ihm, und als er sich aufsetzte, begann er zu würgen, rannte ins Bad, kniete sich vors Klo, übergab sich, spuckte grünen Schleim. Nachdem sein Magen sich etwas beruhigt hatte, stand er auf und besah sich im Spiegel.
Der Scheck lag auf dem Tisch, er würde ihn wohl heute bei der Bank einlösen. Er war ein Verräter, ein gottverdammter heuchlerischer Verräter. Als aufrechter, ehrlicher, mutiger Mann hätte er zumindest versuchen müssen, den VandenbergsParoli zu bieten. Früher, vor zehn Jahren noch, hätte er mit harten Bandagen gekämpft. Vor zwanzig Jahren gar, da hatte er noch Hoffnungen und Pläne und Wünsche. Und jetzt waren die Jahre ins Land gezogen, unendlich viel war geschehen, und von den Hoffnungen und Plänen und Wünschen war nichts geblieben als heiße Luft. Die Zeit verrann in monotonem Gleichklang, er fühlte sich krank und wußte, für eine Änderung in seinem Leben war es zu spät.
Seine Vorsätze für den gestrigen Abend waren ehrenwert gewesen, das Ergebnis katastrophal. Er beruhigte sich damit, daß er in Wahrheit ja auch keine Chance gehabt hatte. Selbst wenn er tatsächlich das LKA eingeschaltet hätte. Es war auch sinnlos, jetzt, zwölf Stunden später, darüber nachzugrübeln! Er hielt nichts mehr in Händen, womit er den Vandenbergs schaden konnte, außer einer lausigen Kopie des Briefes, die er am Nachmittag im Rathaus gemacht hatte. Hunderttausend Mark! Warum, um alles in der Welt, bezahlten sie eine derart hohe Summe, nur um in den Besitz des Briefes einer angeblich gestörten alten Dame zu gelangen? Wovor fürchteten sie sich? Er schüttelte den Kopf und spülte sich den Mund aus.
Er mußte Engler aufsuchen. Jetzt, wo alles vorüber war, das Spiel gespielt und er als (sieg)reicher Verlierer, Verräter und geprügelter Hund zugleich, das Feld verlassen hatte, würde der Pfarrer vielleicht endlich mit der vollen Wahrheit herausrücken. Das Telefon klingelte, gerade als er die Wohnung verlassen wollte. Er nahm nach dem zweiten Läuten ab.
Eine Frauenstimme meldete sich. »Gut, daß ich dich erreiche«, sagte die Frau mit erregter Stimme. Brackmann bekam einen tödlichen Schrecken. Er hatte vergessen, noch am Abend anzurufen, um Csilla und Sarah zu warnen. »Hier waren vorhin zwei Männer, die Csilla und Sarahabholen wollten. Was hat das zu bedeuten? Woher wissen sie, daß die Frauen hier sind?«
»Keine Ahnung«, log Brackmann. »Was ist passiert?«
»Nichts ist passiert. Die Frauen und das Mädchen sind nicht hier, zum Glück. Ich habe den Männern gesagt, Csilla und Sarah seien abgereist und ich wüßte nicht, wohin. Das war doch richtig, oder?«
Brackmann atmete tief ein und stieß die Luft erleichtert aus. »Das war perfekt. Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll.«
»Nichts zu danken, aber . . .«
»Wo sind sie?«
»Csilla und Sarah?«
»Ja.«
»Hans hat sie gestern abend mit in unsere Berghütte auf dem Ochsenkopf genommen. Er wollte sowieso für ein paar Tage dort oben nach dem rechten sehen und hat deshalb die Frauen mitgenommen. Er meinte, er hätte so ein Gefühl, daß es besser wäre, wenn er
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