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Der Finger Gottes

Der Finger Gottes

Titel: Der Finger Gottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Franz
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in der Hand, mit dem er sich Stirn und Hals abwischte.
    »Darf ich reinkommen?«
    Wortlos machte Reuter den Weg frei, schloß die Tür, ging vor Engler ins Wohnzimmer und deutete mit der Hand auf einen Sessel.
    »Tut mir leid, das mit Maria. Brackmann war vorhin bei mir und hat mir alles erzählt.«
    »Was soll’s?! Das Leben ist nun mal verdammt ungerecht! Warum zum Teufel mußte das geschehen? Kannst du esmir sagen?« Seine Stimme zitterte, die Augen verschwammen, er vergrub den Kopf erneut zwischen den Händen. Engler setzte sich neben ihn.
    »Wenn du weinen willst, dann tu’s. Weinen hilft fast immer. Es erleichtert die Seele.«
    »Warum Maria?« Reuter weinte nicht, er hatte es schon vor langer Zeit verlernt.
    »Wer kennt schon den Zeitpunkt, an dem die Lebensuhr abgelaufen ist? Und außerdem gibt es für alles einen Grund. Auch wenn wir den nicht immer verstehen.«
    »Natürlich, du mußt so reden! Ich würde es trotzdem gerne verstehen.«
    »Nur Gott versteht alles.«
    »Gott, Gott, Gott! Wenn wir Menschen nicht mehr weiterwissen, dann schieben wir Gott vor! Aber manchmal glaube ich, dein Gott tut bestimmte Dinge immer im falschen Augenblick.«
    »Für dich ist es vielleicht der falsche. Nur – wann wäre denn deiner Meinung nach der richtige gewesen?«
    Reuter setzte sich aufrecht hin, sah Engler verständnislos an. »Du weißt so gut wie ich, daß ich dir darauf keine Antwort geben kann. Ich bin schließlich auch nur ein Mensch!«
    »Schon gut.« Engler griff in die Tasche seines Hemdes und holte einen Umschlag heraus. »Ich bin unter anderem gekommen, weil ich einen Brief für dich habe. Hier.« Er reichte ihn Reuter.
    »Von Maria? Wo hast du ihn her?« Seine Finger zitterten, als er den Umschlag entgegennahm.
    »Sie hat ihn am Sonntagabend mit einigen anderen Sachen bei mir deponiert. Sie hat mir aufgetragen, ihn dir erst nach ihrem Tod auszuhändigen.«
    »Was? Ich verstehe nicht … Heißt das etwa, daß sie bereits am Sonntag …«, fragte Reuter ungläubig.
    »Ich weiß es nicht. Vielleicht hatte sie eine Vorahnung.«
    »Natürlich, und du wußtest davon! Du hast wahrscheinlich mehr aus ihrem Leben gewußt als ich«, sagte Reuter bitter, öffnete den Umschlag mit fahrigen Fingern und riß den Brief heraus.
    Engler erhob sich von seinem Platz. »Ich denke, ich sollte jetzt besser wieder gehen.«
    »Das brauchst du nicht. Warte noch einen Moment«, sagte Reuter, während er zu lesen begann.
    »Ich habe noch eine Menge zu tun. Wir sehen uns später. Und Kopf hoch!«
    Es waren vier vollgeschriebene Seiten, und Reuter fand bestätigt, was sie ihm nie gesagt, er jedoch immer gespürt hatte – sie hatte ihn geliebt. Er schneuzte sich die Nase, nahm die Flasche vom Beistelltisch, schenkte sich einen kleinen Bourbon ein, trank aus. Las den Brief noch einmal, erst nach dem dritten Lesen legte er ihn auf den Tisch. Er stand auf, begab sich ans Fenster, der Parkettfußboden knarrte unter seinen Füßen, Reuter blickte durch die Gardinen hinaus auf die Straße, die unter dem fahlen Licht der von einer hauchdünnen Wolkenschicht verdeckten Sonne vor ihm lag. Er kniff die Augen zusammen.
    Eine junge Frau stand mit ihrem Kind vor Maria Olsens Geschäft, las das Schild
Vorübergehend geschlossen
, verharrte einige Sekunden unschlüssig, nahm das Kind wieder bei der Hand und lief die Straße entlang Richtung Supermarkt. Reuter sah ihr nach, bis sie hinter der Biegung der Straße verschwunden war. Eine grau getigerte fette Katze schlich träge und schwerfällig durch den Garten neben Maria Olsens Haus, machte kurz halt, die Ohren gespitzt, starrte regungslos, wie zum Sprung bereit auf einen bestimmten Punkt, der ganze Körper mit jeder Faser gespannt, doch mit einem Mal entspannte sie sich, trottete weiter, war plötzlich aus Reuters Blickfeld verschwunden.
    Zwei Frauen standen an der Straßenecke und unterhielten sich, die Gesichter von der drückenden Schwüle gezeichnet. Drei kleine Burschen marschierten unter seinem Fenster vorbei, jeder eine riesige Eistüte in der Hand.
    Die Sonne war kaum mehr als ein verschwommener gelblicher Umriß. Das Thermometer an Reuters Fenster zeigte eine Schattentemperatur von 39 Grad, das Hygrometer eine Luftfeuchtigkeit von 80 Prozent an. Er konnte sich nicht erinnern, je zuvor eine solch gnadenlose Hitze erlebt zu haben, nicht einmal bei seinen diversen Auslandsaufenthalten in der Türkei oder Nordafrika. Reuter öffnete auch den zweiten Knopf unter dem Kragen. Die erst vor drei

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