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Der Finger Gottes

Der Finger Gottes

Titel: Der Finger Gottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Franz
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Wochen eingebaute Klimaanlage lief auf Hochtouren, dennoch schwitzte er. Er drehte sich um, holte aus dem Kühlschrank eine Dose Bier. Las den Brief ein viertes Mal.
     
    Engler verließ Reuter um kurz vor halb fünf. Wer immer dem Pfarrer begegnete, grüßte ihn freundlich – bis auf Frau Fleischer, ein ältliches Fräulein, schmal, mit einer spitzen Nase in einem spitzen Gesicht, mit kleinen, runden, stechend blauen Augen, einem schmalen Mund und einem scharfen Kinn, die Haare wie immer hinten zu einem Dutt geformt. Sie eilte an ihm vorbei, als sähe sie ihn nicht, als existierte er nicht. Den Kopf erhoben, die Augen während des kurzen Moments des Aneinandervorbeigehens geschlossen, tippelte sie mit kleinen flinken Schritten über die Straße zur Bücherei, um wie immer pünktlich Schlag fünf die Bücherei für das Nachmittagspublikum zu öffnen, und genauso würde sie um Punkt zwanzig Uhr die Tür wieder abschließen.
    Engler hätte eine Menge dafür gegeben, sie sonntags wieder in der Kirche zu sehen, doch die Fleischer zum Kommen zu bewegen würde selbst dem gewieftesten Diplomaten Unmögliches abverlangen.
    Er hatte sie gekränkt, ihrer Meinung nach. Dabei hatte er lediglich versucht, ihr den Grundsatz der Nächstenliebe ein wenig näherzubringen, wobei er in höflichen aber unmißverständlichen Umschreibungen auf ihre spitze Zunge angespielt hatte, mit der sie nicht zum erstenmal in höchst verletzender Weise ein Mitglied seiner Gemeinde zutiefst gekränkt hatte. An jenem Abend, an dem er mit ihr sprach, hatte sie nichts erwidert, nur verzweifelt mit hochrotem Kopf um Luft gerungen und schließlich Engler mit spitzem Zeigefinger die Tür gewiesen. Seither, ein halbes Jahr war vergangen, behandelte sie ihn wie Luft. Sie fehlte jedoch nicht nur als treues Mitglied seiner Gemeinde, sie fehlte vor allem als Organistin. Ab und zu versuchte sich seit ihrem Wegbleiben der alte Schorsch Maier an der Orgel, doch Engler fragte sich, ob es nicht besser wäre, ganz auf Orgelbegleitung zu verzichten, statt den arg kurzsichtigen, gichtgeplagten alten Mann sich abquälen zu lassen.
    Doch trotz ihrer unnachgiebigen Haltung tat sie ihm leid, dieses vertrocknete alte Suppenhuhn, als das er sie in seinen geheimsten Gedanken empfand. Er hatte sie nie in Begleitung eines Mannes gesehen, und der Zug, in dem Männer saßen, schien abgefahren. Aber allem Anschein nach hatte sie sich nie für Männer interessiert, für sie schienen Männer Ausgeburten der Hölle zu sein, mit Pest und Aussatz behaftet, sexsüchtige Monster, an denen man sich die Finger schmutzig machte, wenn man sie nur anschaute. Sie lebte sehr zurückgezogen, selbst in der Bücherei versah sie lediglich ihren Dienst, engere Kontakte schloß sie seines Wissens nach keine, auch wenn sie berüchtigt war für ihre giftspritzende Zunge.
    Ich sollte morgen rübergehen und mit ihr reden
, dachte er nicht zum erstenmal und lief weiter.
Nein, vielleicht doch nicht morgen, irgendwann einmal.
    Er wurde in seinen Gedanken jäh unterbrochen, als ihm vonhinten auf die Schulter getippt wurde. Als er sich umdrehte, blickte er in die strahlend blauen Augen von Caroline Obert.
    »Caroline! Du hast mich erschreckt!«
    »Tut mir leid, aber ich habe Sie zweimal gerufen.« Caroline war gerade sechzehn geworden, sie hatte ein außergewöhnlich hübsches ebenmäßiges Gesicht, langes, blondes volles Haar, eine schmale kurze Nase und gerade, makellos weiße Zähne. Das hervorstechendste Merkmal jedoch waren ihre im wahrsten Sinn des Wortes himmelblauen Augen, die jeden normalgearteten Mann zwischen fünfzehn und achtzig verrückt machen konnten. Caroline war ein sehr fraulicher und sportlicher Typ zugleich, ihre Ausstrahlung hatte etwas Reines, Unverdorbenes. Wer sich jedoch Hoffnungen auf sie machte, wurde enttäuscht, denn trotz ihres jungen Alters war sie schon vergeben, zumindest mit ziemlicher Sicherheit, an Andy, mit dem sie bereits im Sandkasten gespielt hatte.
    »Was gibt es?« fragte Engler und sah zu ihr hinunter. Das Blau ihrer Augen verdunkelte sich schlagartig, sie druckste verlegen herum, betrachtete ihre Hände.
    »Ich würde gerne mit Ihnen sprechen … wenn es geht.« Sie sprach leise, vergewisserte sich mit unruhigem Blick, daß auch keiner der Vorbeilaufenden etwas von dem Gespräch mitbekam.
    »Deinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, scheint es sich um etwas Ernsteres zu handeln«, stellte Engler fest. »Gut, ich erwarte dich dann morgen nachmittag um vier.«
    »Das

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