Der Finger Gottes
bis es halb neun ist«, maulte Caroline, verschränkte die Arme vor der Brust, starrte beleidigt aus dem Fenster. Sie waren die einzigen Menschen auf dem Platz vor der Kirche; sie schwiegen, bis es genau halb neun war, Andy mit zurückgelegtem Kopf und geschlossenen Augen, Caroline starrte unverwandt aus dem Fenster.
Schließlich stiegen sie aus, liefen langsam und schweigendden Weg zum Pfarrhaus hoch. Andy legte den Finger auf die Klingel. Sie brauchten nicht lange zu warten, bis ihnen geöffnet wurde.
»Ah, Andy und Caroline! Kommt rein.« Engler lächelte väterlich. »Gehen wir ins Wohnzimmer, dort ist es gemütlicher.« Er schloß die Tür, ging vor ihnen her, zeigte auf das Sofa, setzte sich selbst wie gewohnt hinter seinen Schreibtisch und lehnte sich zurück, die Hände über dem Bauch gefaltet.
»Also, dann schießt mal los! Carolines Gesichtsausdruck von heute nachmittag nach zu urteilen, scheint es sich ja um ein etwas ernsteres Problem zu handeln.«
Andy verzog gequält den Mund, während Caroline den Blick gesenkt hielt und mit den Fingern der linken Hand nervös über den Handrücken der rechten kratzte.
»Es ist ein ernstes Problem. Ein sehr ernstes sogar«, stieß Andy mühsam hervor. Er hatte Schweißperlen auf der Stirn, seine Handflächen waren feucht, er wischte sie an der Hose ab. Sein Blick war unruhig. »Und Sie sind der einzige, der uns vielleicht helfen kann. Aber Sie müssen uns bitte hoch und heilig versprechen, keiner Menschenseele auch nur ein Sterbenswörtchen zu verraten. Zumindest vorerst nicht.«
Engler schüttelte weise den Kopf, lächelte wieder verständnisvoll. »Ihr wißt doch genau, daß es ein Beichtgeheimnis gibt, und schon deswegen bin ich zu absolutem Stillschweigen verpflichtet. Was ihr mir jetzt sagt, wird diese vier Wände nicht verlassen. Ihr braucht also keine Angst zu haben. Aber wenn ich euch helfen soll, muß ich natürlich erst mal wissen, um was es geht.«
»Gut«, begann Andy, warf einen hilfesuchenden Blick zu Caroline, als sie jedoch keine Anstalten machte zu beginnen, sagte er: »Wenn Caroline nicht . . . dann werde ich eben . . .«
»Nein, Andy, laß mich das machen.« Sie holte tief Luft, ihre Hände verkrampften sich ineinander, eigentlich hatte sie sich vorgenommen, weit auszuholen, eine lange, eine sehr, sehr lange Geschichte zu erzählen, um sich vor Engler zu rechtfertigen, damit er ihre Situation verstand, statt dessen flüsterte sie nur: »Ich bekomme ein Baby.«
Andy erschrak, senkte schnell den Blick, Caroline hingegen saß stolz und aufrecht da, mit einer Spur Widerspenstigkeit in ihrer Haltung, in den Augen, sie verfolgte jede Regung in Englers Gesicht. Engler veränderte seine Haltung nur unmerklich, führte die Fingerspitzen an seine Nase, wie immer, wenn er nachdachte; er lächelte nicht mehr, ließ seine Augen von Andy zu Caroline wandern, erhob sich aus seinem Sessel und ging, die Hände hinter dem Rücken gefaltet, zum Kamin. Er blieb mit dem Gesicht zur Wand stehen, von hinten erweckte es den Eindruck, als betrachtete er das über dem Kamin hängende Bild, in Wahrheit aber hatte er die Augen geschlossen.
Er wußte, was diese Mitteilung bedeutete. In fast jeder anderen Stadt wäre die Schwangerschaft einer Sechzehnjährigen in der heutigen aufgeklärten, weltoffenen Zeit kein oder kein sehr folgenschweres Problem gewesen. Aber Waldstein war kein Bestandteil dieser Welt, nicht in solchen Dingen. Waldstein war eine eigene Welt, mit eigenen Gesetzen, einer eigenen Weltanschauung, eigenen Moralvorstellungen, einer eigenen Bigotterie. Engler verstand die Angst und Sorge der beiden. Die meisten Bewohner von Waldstein waren erzkonservativ und gottesfürchtig und dabei doch bigott bis ins Mark. Er brauchte nur an die Schandmäuler der Damen Pickard und Fleischer zu denken. Es würde einer Menge Anstrengungen bedürfen, Andy und Caroline auch wirklich helfen zu können, was nichts anderes hieß, als sie vor Anfeindungen und Spott zu bewahren. Noch vor wenigen Jahrzehnten wären sie hier wahrscheinlichgeteert und gefedert oder zumindest mit Schimpf und Schande aus dem Ort gejagt worden.
»Wissen eure Eltern davon?«
»Natürlich nicht, sonst wären wir nicht hier!«
»Dann ist der Grund, weshalb ihr hier seid, der, daß ihr nicht wißt, wie ihr es ihnen beibringen sollt. Stimmt’s?«
»Ja.«
»Seit wann bist du schwanger?«
»Nächste Woche bin ich im dritten Monat. Wir haben es gestern von Doktor Reuter erfahren. Wir haben schon die
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