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Der Finger Gottes

Der Finger Gottes

Titel: Der Finger Gottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Franz
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war ein glutroter Feuerball, die geschwungenen Hügel des Fichtelgebirges schälten sich allmählich aus dem Dunst der flirrenden Hitze, wurden zu einer zum Greifen nahen Illusion. Vereinzelte orange-rote Streifen zogen quer über den Himmel von Horizont zu Horizont. Im Nordwesten hatte sich ein schmaler Baldachin aus gelben, euterartigen Mammatuswolken gebildet, angestrahlt von der untergehenden Sonne.
    Georg zog an seiner Pfeife, der Rauch, den er auspaffte, stieg senkrecht nach oben. Er hörte Esther in der Küche hantieren und dabei ein Kirchenlied summen. Georg war sicher, daß während sie summte, bestimmt wieder hektische,umtriebige Gedanken in ihrem Kopf umherschwirrten, sie vielleicht überlegte, wie sie am besten und geschicktesten das eine oder andere intime Detail, das sie über jemanden erfahren hatte, unter die Leute bringen konnte. Und Esther kannte viele Details von anderen, und sie behielt keines lange für sich. Das Klappern hörte plötzlich auf. »Ist es nicht schön?« fragte sie und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Er hatte sie nicht kommen hören.
    »Was meinst du?« fragte er, eine Hand hielt die Pfeife, die andere steckte in der Hosentasche.
    »Die Farben des Himmels, diese Wolken. Ich finde, es ist heute besonders still und friedlich.« Ihre Stimme war sanft, fast zärtlich. Er sah sie wortlos und ernst von der Seite an, ihre plötzlichen Stimmungsumschwünge irritierten ihn.
    »Weißt du, Georg, eigentlich geht mich das mit Scherer wirklich nichts an. Soll ihn doch der Teufel holen! Soll er zur Hölle fahren!« Ihre Augen leuchteten schelmisch, etwas Jungmädchenhaftes lag in ihrem Blick, sie berührte seine Hand.
    »Laß uns ins Haus gehen«, sagte er.
    Von Süden, vom Mittelmeer her, strömte immer noch feuchtheiße Luft nach Norden, obgleich der Wind zum Erliegen gekommen war. Gleichzeitig rückte eine nur von Meteorologen feststellbare Kaltluftfront in vielen Kilometern Höhe von Norden her unaufhaltsam gen Süden vor. Recht langsam drifteten sie aufeinander zu, und vielleicht begegneten sie sich irgendwann, die eisigkalte, knochentrockene arktische Luft und diese feuchtheiße Schicht, und vielleicht legte sich die kalte Luft allmählich über die heiße.

Kapitel 10
    Etwa zur gleichen Zeit, als die Pickards zurück ins Haus gingen, aßen nur wenige Häuser weiter fünf Personen zu Abend. Herr Obert, ein freundlicher, doch konsequenter Mann von fünfundvierzig Jahren, der seit mehr als fünfzehn Jahren eine eigene Anwaltskanzlei in Hof betrieb, sprach, bevor die Speisen freigegeben wurden, das obligatorische Tischgebet. Ein Teil seiner Arbeit hatte mit Scheidungen, dem Aufsetzen von Testamenten und Erbschaftsstreitigkeiten zu tun, doch hauptsächlich kümmerte sich Obert um die notarielle Verwaltung sämtlicher Grundstücke und Häuser der Vandenbergs in und um Waldstein, wodurch er zu den sehr wenigen Personen in Waldstein gehörte, die mit den Vandenbergs persönlich verkehrten. Er war durch seine Tätigkeit im Laufe der Jahre recht wohlhabend geworden, doch trotz dieses Wohlstands führten die Oberts ein vergleichsweise einfaches, bescheidenes Leben.
    Seine Frau, eine kleine, schmächtige, gepflegte Erscheinung, redete selten viel, höchstens wenn sie einmal etwas zuviel getrunken hatte, was jedoch nur äußerst selten vorkam, sie trug ihr volles dunkelblondes Haar kurz, hatte feine, zartgliedrige Finger, aber ausdruckslose wäßrigblaue Augen; eine ausgeglichene Person, für die es keine übermäßige Freude, aber auch keine tiefe Traurigkeit zu geben schien, selten erhob sie ihre Stimme, es war, als ob jeder Tag ihres Lebens das vollkommene Abbild des vorherigen wäre.
    Mit am Tisch saßen Ernst, Jonathan und Caroline. Ernst war zweiundzwanzig und machte gerade eine Ausbildung zum Computerfachmann bei Merkel, dem besten Freund von Obert, der sein kleines, aber florierendes Unternehmen für Softwareanwendungen ebenfalls in Hof betrieb.
    Jonathan, der zweite Sohn, war fünfzehn und würde nie eine richtige Ausbildung machen, nie eine eigene Wohnungbesitzen, nie ein Auto steuern, die Frage war, ob er je richtig würde essen können. Auch jetzt saß er vornübergebeugt am Tisch, die Finger seiner rechten Hand umklammerten ungelenk die Gabel, seine Zunge hing, bevor er das Essen mit den Fingern der linken Hand in den Mund stopfte, weiter als normal heraus. Jonathan war mongoloid, ein besonders schwerer Fall. Komplikationen bei der Geburt, Komplikationen bei den ersten Atemzügen

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