Der Finger Gottes
Telefonmasten wie Streichhölzer umknicken, Bäume samt ihren Wurzeln aus dem Boden reißen, Autos wie Spielzeug umherschleudern, Häuser durch die Luft tragen oder wie riesige Luftballons durch plötzlich entstehenden, gewaltigen Unterdruck explodieren lassen, ganz zu schweigen von dem, was er mit Menschen anstellte.
Selbst im Schutz der Häuser spürte er den auflebenden Wind, er beobachtete mit zunehmendem Unbehagen, wie sich die Bäume zur Seite neigten. Einige wenige Männer, Frauen und Kinder rannten voller Angst aus den Häusern und an ihm vorbei. Und obwohl er sich ermahnte, ruhig und besonnen zu bleiben, kroch die Furcht unaufhaltsam in ihm hoch.
Am Nachmittag hatte es einige Momente gegeben, da hatte er sich gewünscht, tot zu sein, am besten zu sterben wie Maria Olsen. Als wenn jemand plötzlich das Licht ausknipst. Aber jetzt . . . nein, nicht durch ein Unwetter, dann wollte er lieber noch selbst bestimmen, wie er starb. Schnell und schmerzlos, hinübergleiten in eine andere, hoffentlich bessere Welt. Er hatte Medikamente für ein kurzes und angenehmes Sterben, für die Trennung der Seele vom Körper. Auch wenn er nie so recht daran glauben mochte, daß es ein Jenseits wirklich gab. Reuter hätte dafür an Gott glauben müssen, an ein Leben nach dem Tod. Er hoffte, all jene behielten recht, die daran glaubten.
Unablässig flackerte es hinter den Wolken, Donnergrummeln. Noch war die Luft trocken. Dann plötzlich und ohne Vorwarnung Sturm. Speere aus dem Himmel, gefolgt von krachenden Schlägen, als sollte die Erde gespalten werden.
Und dann war es dunkel. Im Bruchteil einer Sekunde erloschen alle Lichter in Waldstein, Straßenlaternen, Wohnzimmerleuchten, die Neonbuchstaben von Tonis Kneipe. Allein die Scheinwerfer der Streifenwagen warfen ein gespenstisches Licht auf die Straße. Und mit der Dunkelheit kam endgültig die Angst. Vereinzelt wurden hinter Fenstern Kerzen entzündet. Irgendwo schrie jemand markerschütternd. Angst!
Es war 1.09 Uhr. Vier Minuten verblieben, zu wenig, um jetzt noch Vorbereitungen zu treffen. Und viele, vielleicht sogar die meisten, schliefen noch, ahnten nichts von dem, was draußen vor sich ging. Die meisten hätten gewarnt werden können, doch im Augenblick war sich jeder selbst der Nächste. Manch einer wußte in seiner Panik nicht, was er tun oder wohin er gehen sollte, andere blickten dem Sturm mit stoischer Ruhe entgegen. Fatalismus. Dem Unausweichlichen, der Apokalypse entgegensehen, ihr begegnen und abwarten, es hinnehmen. Ein paar hatten sich zusammengesetzt,im Gebet vereint, sie riefen den Schöpfer an, baten ihn um Gnade, es war, als versuchten sie, kurz vor dem Weltuntergang um Befreiung von ihren Sünden zu winseln.
Angela Siebeck saß in ihrem Schaukelstuhl, an der geschlossenen Balkontür, und schaute hinaus. Der Sturm preßte gegen das Glas, Blitze, Donner, entfesselte Naturgewalten. Ihre Gedanken waren weit weg, bewegten sich auf einer andern Ebene, ihr Inneres war ausgehöhlt und leer, ihr Geist umnebelt von zuviel Cognac.
Sie fühlte sich schmutzig. Schmutziger, als sie es jemals für möglich gehalten hätte. Ein Schmutz, der nicht abzuwaschen war. Ein Schmutz, der sie in Minuten zu einer andern Frau gemacht hatte. Ein Brandeisen, das auf ihren Körper gedrückt worden war. Männer! Sie haßte Männer. Männer kauften sich Magazine mit schmutzigen Fotos, erzählten sich schmutzige Witze, verprügelten ihre Frauen, vergewaltigten sie, wie es ihnen gefiel. Männer taten nichts anderes, als sich den ganzen Tag mit ihren gottverdammten Schwänzen und dem Ficken zu beschäftigen.
Scherer! In ganz Waldstein gab es sicher viele Scherers! Viele Wölfe im Schafspelz! Verfluchtes Männerpack! Sie schwor sich in dieser Nacht, nie wieder etwas mit einem Mann zu tun haben zu wollen. Nie wieder! Lieber allein bleiben, für sich selbst verantwortlich, sogar auf die Gefahr hin, wie die Fleischer zu enden. Alt, einsam, sonderbar. Aber die Fleischer war niemandem Rechenschaft schuldig, brauchte keinem beschissenen Kerl die Socken zu waschen und die Hemden zu bügeln, kochte nur für sich allein, wurde nicht Nacht für Nacht von einem sexbesessenen Monster bestiegen.
Das grelle Licht der Blitze verwandelte ihr Gesicht in eine starre Maske. Das Telefon stand neben ihr auf dem Boden, es läutete, sie nahm erst nach dem fünftenmal ab.
»Ja?« Ihre Stimme klang müde und gleichgültig.
»Hier noch mal Brackmann. Wollen Sie nicht doch lieber in den Keller gehen? Ich
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