Der Finger Gottes
allen, gingen nach der Durchsage Lichter an. Und Schmidt und Brackmann fuhren eine Runde nach der anderen und wiederholten monoton ihre Warnung.
Kapitel 14
Merkel lief kopfschüttelnd durch das Zimmer, die Fäuste geballt. »Warum hat er uns das angetan? Warum, frage ich dich?!«
»Himmel noch mal, woher soll ich das wissen? Wenn wir nur nicht in diesem verfluchten Scheißnest wohnen würden! Die Leute, wenn ich nur an die Leute denke!« Seine Frau saß schwer atmend im Sessel.
»Du findest also, das ist das schlimmste? Für mich ist das nur nebensächlich. Ich denke an ihn. Mit achtzehn Vater werden! Alle Pläne dahin! Als hätten sie nie existiert. Dieses Arschloch, dieses elende Arschloch, was hat er sichbloß dabei gedacht?!« Ein Blick auf seine Frau, die die Luft quietschend einzog, ihr Gesicht war dunkelrot angelaufen, nicht mehr lange, bis es eine blaue Färbung annehmen würde. In unzähligen Untersuchungen hatten Ärzte eine organische Ursache für ihr Leiden herauszufinden versucht, bis sie schließlich eine übermäßige Nervosität diagnostizierten. Zumindest hatten sie ihr das gesagt. Ihm sagten sie, seine Frau sei einfach nur hysterisch, was aber bereits bei der geringsten Aufregung einen Anfall auslösen könne. Und außerdem sei sie übergewichtig, zu fett hatte sich keiner zu sagen getraut.
Einigemal schon hatte er befürchtet, sie würde diese Anfälle nicht überleben, wenn ihr Gesicht blau anlief, sie nicht mehr in der Lage war, die eingeatmete Luft, die sich in ihren Lungen staute, wieder auszuatmen, die Augen angstvoll geweitet waren, hervorquollen, die Adern an ihrem Hals anschwollen, die Finger sich verkrampften bei dem Bemühen, die Luft aus den Lungen herauszupressen. Es war wieder soweit. Das Spray zeigte kaum Wirkung, sie hatte ihre Arme angewinkelt auf die Brust gepreßt. Er verfluchte Andy und die Hitze, die er mitverantwortlich für den Anfall machte, verfluchte seine Unfähigkeit, ihr zu helfen. Quetschte »gottverdammte Hitze«, und »gottverdammter Himmelhund« hervor, im gleichen Atemzug jedoch flehte er Gott an, seiner Frau beizustehen. Sie konnte kaum noch atmen, der natürlichste Reflex des Menschen funktionierte bei ihr nicht mehr. Er ging zu ihr, hielt ihre Hand, ihr Puls raste, auf ihrer Stirn hatten sich unzählige kalte Schweißperlen gebildet.
»Ich werde Dr. Reuter anrufen, er wird sich um dich kümmern. Du brauchst eine Spritze.« Merkel ließ es klingeln, legte auf, wählte erneut. Dieser Anfall erschien ihm besonders ernst. Er kannte ihre Anfälle aus der Vergangenheit, und wie so oft, wußte er nicht, was zu tun war. Sie war nichtmehr fähig zu sprechen. Verzweifeltes Röcheln, der Mund geöffnet, das Gesicht eine Grimasse. Kein Schreien, nur stumme, qualvolle Hilferufe ihrer Augen, ihrer Hände, ihrer Mundwinkel. Speichel lief aus ihrem Mund, tropfte auf die Bluse.
»Kannst du aufstehen?«
Sie schüttelte den Kopf. Er rannte in die Küche, suchte die Cortisontabletten, die immer auf Vorrat im Medizinschrank lagen, riß die anderen Medikamente heraus, fand das gesuchte nicht, hielt dafür im nächsten Augenblick wie durch Zauber eine Packung Valium in der Hand. Er erinnerte sich an die Worte Reuters, der einmal gesagt hatte, daß er ihr Valium verabreichen sollte, wenn nichts anderes verfügbar wäre, da ihre Anfälle ohnehin psychischen Ursprungs waren . . . Er nahm gleich zwei Tabletten aus der Packung, reichte sie zusammen mit einem Glas Wasser seiner Frau.
Ein paarmal fielen ihr die Tabletten aus dem Mund, bis sie sie endlich geschluckt hatte. Merkel hätte ihr gerne von seiner Luft abgegeben. Er hatte viel Luft, viel zuviel, wie er plötzlich fand. Doch alles, was er konnte, war, ihre Hand zu halten und zu beten. Tatsächlich, er betete. Wie lange war das letzte Gebet her? Ein Jahr, zwei Jahre, Ewigkeiten?
Er wußte nicht, wie lange er neben ihr saß, ihre Hand hielt. Auf jeden Fall so lange, bis das Valium die erwünschte Wirkung zeigte, die Bronchien sich entspannten, sie wieder normal atmen konnte. Sie schlief ein von der Anstrengung des Anfalls und der Wirkung des Valiums. Und auch ihm fielen die Augen zu.
Windböen drückten den Vorhang der offenen Terrassentür bis fast zur Decke, grelle Blitze rasten vertikal und horizontal über den wolkenverhangenen Himmel, der erste schwere Donner erschütterte Waldstein.
*
Sie waren um den Tisch versammelt, jeder ein Glas Limonade vor sich, gedrückte Stimmung. Seit fast einer Stunde saßen sie
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