Der Finger Gottes
bitte Sie darum.« Er hörte sich besorgt an. Aufrichtig besorgt. Aber er war ein Mann, und Männer verstellten sich immer, logen, betrogen, vergewaltigten. Wölfe!
Sie legte einfach auf. Sie war allein, sie wollte allein bleiben. Und sollte sie sterben, so wollte sie auch dies allein tun.
Die Pickards gingen an diesem Abend früher als gewöhnlich zu Bett. Es war ein harter, anstrengender Tag gewesen, dazu die unerträgliche, ermüdende Hitze.
»Komm doch mal her, Esther, und schau dir das an.« Georg stand nachdenklich vor dem Barometer, das neben der Terrassentür hing.
»Und? Was ist damit?« fragte sie verständnislos.
»Merkwürdig. Heute morgen stand es auf 1020, und jetzt ist es auf beinahe 900 gefallen. Das verstehe ich nicht.«
»Vielleicht ist es kaputt.«
»Wovon soll ein Barometer schon kaputtgehen, wenn es den ganzen Tag immer nur dahängt?« Er klopfte leicht gegen die Scheibe des Gehäuses, worauf die Nadel noch ein Stück weiter nach unten auf 880 fiel.
»Also eins sage ich dir, Esther, das Ding ist nicht kaputt. Sieht eher aus, als würden wir ein Gewitter kriegen.«
»Von mir aus. Ein bißchen Regen könnte nichts schaden.«
»Trotzdem, ich muß nachsehen, was es bedeutet.«
»Tu, was du nichts lassen kannst, ich jedenfalls gehe zu Bett. Und es wäre schön, wenn du auch . . .« Sie blieb kurz stehen, warf ihm einen vielsagenden Blick zu, den er jedoch nicht mehr wahrnahm, denn er stand bereits mit dem Rücken zu ihr am Bücherregal.
»Ja, gleich. Ich muß erst wissen, was dieser plötzliche Luftdruckabfall zu bedeuten hat.«
Esther schloß leise die Tür hinter sich, während Georg ein kleines Buch mit dem lapidaren Titel »Wetter« aus dem Regal zog. Über alles mögliche stand darin geschrieben, Gewitter, Klimawechsel, Sandstürme, Blizzards, Wolkenbrüche, Überschwemmungen, aber für einen rapiden Luftdruckabfall hatten sie nur ein paar lächerliche Zeilen übrig –
Plötzlicher Luftdruckabfall, der sich innerhalb von ein paar Minuten bis zu einigen Stunden vollzieht, kann ein Anzeichen für einen Orkan, eine schnell heraufziehende Gewitterfront, einen Hurrikan oder einen Tornado (letzteres jedoch fast ausschließlich in den USA) sein. Allerdings muß ein plötzlich auftretender Luftdruckabfall nicht bedeuten, daß eines der oben genannten Ereignisse tatsächlich in dem Ablesegebiet eintritt, sondern kann auch für ein in der näheren Umgebung liegendes Gebiet zutreffen.
»Wenn man wirklich mal was wissen will, dann schreiben die nur Mist!« sagte er ärgerlich, klappte das Buch zu und stellte es zurück ins Regal. Um elf Uhr löschte er im ganzen Haus das Licht, schlurfte müde die Treppe nach oben. Er gähnte herzhaft. Im Bad wusch er sich, putzte die Zähne, entleerte seine Blase. Die erst vor wenigen Wochen gewartete Klimaanlage quietschte erbärmlich, er fluchte und nahm sich vor, sofort morgen den Reparaturservice zu bestellen, denn sollte die Hitzewelle noch länger anhalten, woran er nicht zweifelte, wäre ein Ausfall der Anlage eine halbe Katastrophe, vor allem, wenn er an die Leichenhalle dachte.
Esther erwarte ihn bereits. Sie lächelte ihn verlegen wie ein pubertäres Schulmädchen an, als er das Schlafzimmer betrat, den kühlsten Raum im Haus. Sie hatte die dünne Bettdecke, die aus nicht mehr als einem Laken bestand, bis ans Kinn hochgezogen. Er sah nur ihre nackten Schultern, ihre Augen leuchteten.
»Ich denke, du bist müde«, sagte er unsicher, denn das letzteMal, daß er mit Esther geschlafen hatte, lag sechs oder sieben oder tausend Monate zurück. Und da war es nur ein kurzer, vielleicht fünf Minuten langer, belangloser Geschlechtsakt gewesen, ein paarmal lustlos sich hin- und herbewegen, sicher nicht erinnerungswürdig und auch nicht wert, wiederholt zu werden.
»Schon, aber nicht zu müde!«
Georg verharrte einen Moment an der Schlafzimmertür, kniff die Lippen zusammen, blickte ernst drein, schien zu überlegen. Dann trat er näher, nahm ihr Angebot an, auch wenn er sich innerlich eigentlich damit abgefunden hatte, daß für Sex in seinem Leben kein Platz mehr war.
Sie liebten sich lange und ausgiebig, so lange, wie vielleicht zuletzt vor zwanzig oder dreißig Jahren. Sie liebten sich, als wäre es das letzte Mal. Um 0.30 Uhr schlief Esther erschöpft in Georgs Armen ein. Die Warnung, die Brackmann durchgab, als er an ihrem Haus vorüberfuhr, hörten sie nicht mehr.
Kapitel 16
Etwa zur gleichen Zeit, als Angela Siebeck vergewaltigt wurde und
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